Z wie Greta
X, Y, Z. Das schien die logische Folge in der Bezeichnung der Generationen zu sein. Auf die Generation X folgt die Generation Y, darauf die Generation Z. Ganz so logisch ist das aber doch nicht. Denn die Generationenbezeichnungen bisher waren Metaphern. X für die rätselhafte, undurchschaubare Generation der Nach-Babyboomer, Y für das Why, das Warum als herausragendes Merkmal. Deutschlands bekanntester Jugendforscher plädiert nun erneut für eine Metapher: "Nennen wir sie die Generation Greta." Nach Greta Thunberg, die Fridays for Future maßgeblich geprägt hat. Ein Gespräch über die neue, politische Generation der Klimaaktivistinnen - und die Konsequenzen der Coronakrise für die Generationenforschung.
Klaus Hurrelmann ist Deutschlands bekanntester Jugendforscher. Und immer gut für eine pointierte These. Die selbstbezogene Generation Y hat er heimliche Revolutionäre genannt. Die Generation Z nennt er nun Generation Greta. Unsere Einstiegsfrage ist daher auch dieselbe wie beim Interview vor sechs Jahren: "Wie kommen Sie zu dieser starken, zugespitzten These?"
Prof. Dr. Klaus Hurrelmann ist der wohl bekannteste Kindheits- und Jugendforscher in Deutschland. Er ist seit 2009 Senior Professor an der Hertie School of Governance in Berlin. Zu seinen Forschungsgebieten zählen Sozialisation, Bildung und Gesundheit von Kindern in Familien und Schulen. Zusammen mit dem Journalisten Erik Albrecht plädiert er dafür, die neue, junge, bislang mit Z bezeichnete Generation die Generation Greta zu nennen, so der Buchtitel. Nach dem über die Generation Y (Die heimlichen Revolutionäre) ist es ihr zweites gemeinsames Buch.
Herr Hurrelmann, Sie haben immer vor vorschnellen Etikettierungen junger, nachwachsender Generationen gewarnt. Und jetzt Generation Greta. Wie kommen Sie zu dieser sehr zugespitzten These?
Wir folgen dabei einer eingeführten Methodik: Alle 15 Jahre in etwa ändern sich die Lebensbedingungen so stark, dass junge Leute davon in einer bestimmten Weise geprägt werden. In der Fachdiskussion herrscht Übereinstimmung, dass 2000 eine neue Zählung beginnt, denn es gibt veränderte politische, wirtschaftliche, technische, kulturelle Bedingungen. Wir haben uns nun mit den jungen Menschen, die seit 2000 geboren wurden, beschäftigt, haben Studien über sie ausgewertet und kommen zu dem Ergebnis: Ja, sie unterscheiden sich deutlich von denen, die vor 2000 geboren wurden, von der sogenannten Generation Y. Sucht man dann nach einem Bild, einer Metapher, bietet sich die Umweltbewegung an. Denn der Klimawandel beschäftigt die jungen Leute sehr stark. Mit der Klimafrage ist ihr politisches Interesse gewachsen. Und Greta Thunberg hat die Bewegung Fridays For Future, die Formen des Protestes und der Auseinandersetzung mit Themen ganz deutlich geprägt. So unser Gedankengang.
Ist Generation Greta Ihre Erfindung oder greifen Sie damit eine Diskussion in der Jugendforschung auf?
Nein, das ist unsere Erfindung. Unser Beweggrund war: Statt dem bisherigen Muster zu folgen, nach dem auf die Generation Y die Generation Z folgt, wählen wir eine Bezeichnung, die eine symbolische Bedeutung hat: Nennen wir sie die Generation Greta. Eben weil die Klimafrage und das Engagement von Greta Thunberg einen sehr großen und sehr aktiven Teil dieser Generation in starkem Maße geprägt und viele junge Leute politisch gemacht hat.
Was spricht gegen Generation Z? Der Begriff schließt zunächst mal intuitiv nachvollziehbar an die Generation Y an.
Es spricht gar nichts dagegen, es folgt dem Alphabet. Aber es passt nicht. Es ist an der Zeit, nach einem Begriff zu suchen, der bildhaft beschreibt, was typisch, auffällig, prägend ist für diese jungen Leute, die nach 2000 geboren wurden. Und das ist eben diese sehr starke Politisierung, die Betonung von Klima- und Umweltthemen, auch von Eigeninteressen als junger Generation im Unterschied zu den Interessen Älterer, das alles verbunden mit dem Aufruf zu einer gemeinsamen Vorgehensweise, zur Solidarität. Das alles ist typisch für die jüngste Generation, und dafür steht eben die Bewegung Fridays For Future sehr, sehr deutlich, und die wiederum wurde von Greta Thunberg geprägt. Das ist das Argument: Wir geben der Generation Z - das ist sozusagen die Ordnungsbezeichnung - einen inhaltlichen, symbolhaften Namen, so wie es auch bei den meisten Generationen davor der Fall war.
Sie schreiben, Z als reine Ordnungsbezeichnung passe nicht in die Reihe von Generationsbezeichnungen, für die metaphorische, symbolische Bedeutungen kennzeichnend waren und nicht nur der rein alphabetische.
Genau. Wir hatten in dieser provisorischen, bildhaften Bezeichnung der Generationen nach der Generation der Babyboomer die Generation X, die Rätselhaften, Undurchschaubaren, die unsicher verharrend im Schatten der großen Vorgängergeneration standen, aber doch so gerade der Wirtschaftskrise entronnen waren. Darauf folgte das Y als Metapher: das Why, das Warum für eine Generation, die in Wirtschaftskrisen und politischen Krisen groß geworden ist, die eine sehr unsichere Ausgangsbasis hatte und akzeptieren musste, dass die Zukunft ungewiss und unberechenbar ist. Eine sondierende, taktierende Generation. Da hat das Y genauso wie das X eine symbolische Bedeutung. Der Buchstabe steht also nicht für sich, sondern als ein Bild. In der Folge von X und Y hat sich ergeben, die folgende Generation der nach 2000 Geborenen als Z zu bezeichnen. Das ist aber nur eine alphabetische Bezeichnung. Das Z hatte nie irgendeine symbolhafte Bedeutung im Sinne von Endzeit oder anderem.
Diese rein alphabetische Bezeichnung hat zudem bereits die Frage aufgeworfen, wie wir auf Z folgende Generation bezeichnen sollen. Beginnen wir dann wieder im Alphabet von vorn und gehen auf das griechische Alpha? Manche sprechen schon von Generation Alpha als der nächsten Generation. Kann man machen - aber viel interessanter und anschaulicher ist es, wenn eine Bedeutung hinter der Bezeichnung steht: Was ist besonders auffällig, besonders charakteristisch, was wird möglicherweise historisch überleben von dieser Generation? Und ich denke, das ist eindeutig die starke Politisierung, die sich konzentriert auf den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und damit eine starke umweltpolitische, klimapolitische Akzentsetzung besitzt.
Eben haben Sie schon eine Gemeinsamkeit erwähnt, die die neue Generation mit der Generation Y verbindet: Die Betonung des Eigeninteresses. Bezogen auf die junge, politisierte Generation überrascht das. Wie äußert sich dieses Eigeninteresse bei den unterschiedlichen Generationen?
Die Generation Y, vor 2000 geboren, hatte keine Sicherheit, in Ausbildung und Beruf hineinzukommen. Dazu war die wirtschaftliche Lage zu unkalkulierbar, hinzu kam eine große politische Unsicherheit. Ein Drittel der jungen Leute auch in Deutschland fanden über längere Zeit hinweg keinen Ausbildungs- und keinen Arbeitsplatz. Das prägt junge Leute und macht sie - bei der Generation Y mit dem Fragezeichen, dem Warum als herausragendem Merkmal symbolisiert - suchend, kritisch, taktierend, sondierend: Schauen, wo man bleibt. Sich nicht festlegen. Aufpassen, dass man nicht den Anschluss verpasst. Sich durchlavieren. Sich nicht zu früh, vielleicht auch gar nicht festlegen. Ein Schuss Opportunismus. Solche Mentalitäten waren überlebensnotwendig. Ich habe das als ego-taktisch bezeichnet, also ganz stark von den unmittelbaren, persönlichen Eigeninteressen ausgehend.
Das hat sich bei den nach 2000 Geborenen dann aufgelöst, weil sie eine ausgezeichnete wirtschaftliche Perspektive hatten, jedenfalls bis vor ganz Kurzem. Sie konnten sehr sicher sein, in Ausbildung und Beruf zu kommen. Das ist wohl der Grund - auch in früheren Generationen findet man diesen Zusammenhang - dass sie sich nicht mehr so stark um sich selbst kümmern, um ihre eigenen Interessen. Und nur schauen: Wo bleibe ich? Was mache ich?
… kann man es so sehen, dass sich das Eigeninteresse jetzt in das Politische, ins Gesellschaftliche wendet?
Ja, das kann man wohl sagen. Auch bei der Generation danach, der Generation Z oder Greta, steht das Interesse am Überleben selbstverständlich im Vordergrund. Aber es richtet sich jetzt nicht mehr vorrangig auf das persönliche Fortkommen. Weil das gesichert war, kann man sich um das kümmern, was als ganz dringend und existenzbedrohend empfunden wird, nämlich umweltpolitische Fragen.
Also ein Eigeninteresse bei beiden Generationen - natürlicherweise, wie immer bei einer jungen Generation - aber in sehr unterschiedlicher Gestalt. Bei Y: Wie überlebe ich, was muss ich taktisch tun, um persönlich durchzukommen? Und bei Z/Greta: Wie kann die ganze Gesellschaft, die ganze Welt, überleben, damit ich überlebe? Das passiert jetzt auf der großen, politischen Ebene. Es geht um die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen. Deshalb ist die Z-Generation politischer als die Y-Generation. Die Generation Y ist nicht unpolitisch, aber sie handelt nur dann, wenn sie einigermaßen kalkulieren kann, wo ihr eigener Weg hinführt.
Also ist die Erfahrung der Bedrohung der Lebensgrundlagen das prägende Moment, das die Erfahrung einer unsicheren, prekären wirtschaftlichen Lage ablöst?
Ja. Weil die jungen Leute den Rücken frei haben bei ihrer eigenen, persönlichen Planung und nicht zittern müssen, ob sie in Ausbildung und Beruf kommen. Damit ist der Kopf frei, um sich um das zu kümmern, was wirklich existentiell bedrohend ist. Das ist ein Thema, das die ganze Gesellschaft beschäftigt und nicht nur die Jüngeren.
Was unterscheidet diese Generation von anderen Generationen vor ihr, die auch politisch aktiv waren?
Die jungen Leute, die in der Bewegung Fridays For Future aktiv sind, gehen nicht politisch-ideologisch an das Thema Klima und Umwelt heran, sondern von fachlichen, von wissenschaftlichen Positionen her - und es ist wiederum Greta Thunberg, die diese Zugangsweise stark propagiert hat. Das ist sehr ungewöhnlich für eine junge Generation. Bei den letzten breiten, flächigen politischen Bewegungen - der Anti-Atomkraft- und Umweltbewegung, davor der 68er-Bewegung - standen nicht wissenschaftliche Erkenntnisse im Vordergrund, sondern ein Lebensgefühl und ein Gefühl von Befreiung. Nun kommt eine junge Generation, die sich auf Forschungsergebnisse und internationale Vereinbarungen beruft und die ältere Generation darauf hinweist, dass sie entgegen den eigenen politischen Beschlüssen und wissenschaftlichen Einsichten handelt. Das ist nicht Ideologie, sondern der Hinweis auf Fehler im Handeln. Zu sehen, wie die ältere Generation und die Politiker für richtig erkannte Beschlüsse und Erkenntnisse nicht umsetzen, sondern darüber hinweggehen, das hat die junge Generation sehr, sehr irritiert und ihr Vertrauen in die Zuverlässigkeit und Handlungsfähigkeit von Regierungen sehr stark erschüttert.
Konfrontiert zu sein mit einer hochkomplexen Wirklichkeit, ist das eine prägende Erfahrung, die diese Generation macht oder gemacht hat? Oder konkreter: Die Erscheinungsform von Komplexität ist die Vielfalt an Optionen. Wie unterscheidet sich diese Generation von früheren in ihrem Umgang mit Komplexität und Optionenvielfalt?
Die Generation Y war die erste Generation, die erlebte, dass alles möglich, aber nichts sicher ist. Dass man sein Leben nicht planen kann, sondern tentativ tastend, sondierend gucken muss, welche Chancen sich situativ ergeben, und diese opportunistisch nutzen muss: Schauen, wie man durchkommt. Wie viele Untersuchungen zeigen, hat sich eine abwartende Haltung festgesetzt: Bei der Vielfalt an Alternativen des Handelns, von denen ich nicht weiß, wohin sie mich führen, und nicht einschätzen kann, welches die richtige ist, kann ich mich nur vertun, wenn ich mich früh entscheide. Also entscheide ich mich spät, schiebe die Entscheidung weit auf; ich warte, taktiere, gucke noch ein zweites Mal. Und erst, wenn es nicht mehr anders geht, entscheide ich mich intuitiv.
Solch eine Grundhaltung gibt es bei der Generation Z/Greta nicht mehr. Weil sie durch das Umweltthema ein anderes Handlungsmuster internalisiert hat: Bei aller Vielfalt, bei allen Optionen des Handelns sind wir bedroht in unserer Existenz, wenn wir nicht konsequent klimapolitische Entscheidungen umsetzen, die schon beschlossen und international kodifiziert sind. Die Generation Greta hat sich aus der Komplexität gewissermaßen herausgenommen. Sie hat eine Entscheidung in den Vordergrund gestellt, die alle anderen Komplexitätsentscheidungen als nachgeordnet erscheinen lässt: welches Konsummuster man wählt, welche Mobilität, welche Kleidung - das wird ganz stark gesteuert durch die umweltpolitische Relevanz. Die Generation Greta hat sozusagen ein Entscheidungskriterium gefunden, um die Komplexität von Handlungsmöglichkeiten und Lebensoptionen zu reduzieren. Hier kann man den Unterschied zwischen diesen beiden Generationen deutlich sehen.
Sie sagen nun: Klima ist erst der Anfang. Die Politisierung wird ausstrahlen. Was führt Sie zu dieser These?
Das ist eine Prognose. Ob die starke Politisierung und die damit einhergehende Kompetenz, sich Gehör zu verschaffen, sich tatsächlich über Umweltthemen hinaus ausbreiten wird, ist jetzt in der Coronakrise natürlich eine offene Frage. Fridays For Future sind viele ihrer Möglichkeiten der Artikulation genommen. Sie können nicht mehr auf die Straße gehen in großer Zahl. Sie können nicht mehr die Schule schwänzen. Es fallen also die ganz besonderen Merkmale dieser Bewegung weg. Sie kann auch nicht mehr mit ihrer Wissenschaftsorientierung punkten, weil in der Coronakrise gesundheitswissenschaftliche und epidemiologische Untersuchungsergebnisse zur Richtschnur für politisches Handeln geworden sind. Damit muss sich die Bewegung völlig neu orientieren. Das könnte dazu führen, dass es nicht so glatt zu einer Ausweitung der Politisierung auf andere Themen kommt, wie ich mir das vor Ausbruch der Krise vorgestellt hatte. Aber ich will bei der Hypothese bleiben. Eine so politisch engagierte junge Generation wird sich nach kurzer Pause wieder zu Wort melden. Sie fängt ja bereits an. Dafür spricht auch, dass die jetzige Gesundheitskrise letztlich ihre Ursache ebenfalls in der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen hat. Dass also zwischen beiden Krisen sehr enge Verbindungen bestehen und es Anknüpfungspunkte gibt, Fridays For Future in verwandelter Form weiterzuführen.
Also ich bleibe bei der Prognose, muss aber zugeben: Unter Corona-Gesichtspunkten kriegt das Ganze eine neue Färbung und läuft nicht so ab, wie ich es mir vor Corona gedacht hatte.
Was diese Generation erlebt, ist im Grunde eine Verdichtung von Krisenerfahrungen: zunächst die sehr intensiv erfahrene Klimakrise, dann die Überlagerung durch die Coronakrise. Wie geht eine Generation mit so einer Erfahrung um?
Die Weltwirtschaftskrise 2007/2008 können wir noch dazunehmen, die so prägend für die Generation Y war. Sie hat diese Krise - wie vorhin skizziert - mit einer pragmatischen, flexiblen Grundhaltung hingenommen und hat versucht, auf dieser wackeligen Grundlage neu zu handeln. Langfristige Spuren hat diese Krise nicht hinterlassen, es sei denn, man sieht diese taktierende, opportunistische Grundhaltung, die Unsicherheit, sich festzulegen, die Entscheidungsschwierigkeiten als Symptome einer Störung.
Ob die jetzige junge Generation unter der heraufkommenden Wirtschaftskrise leiden wird, kann man erst in zwei, drei Jahren sagen. Das wissen wir auch aus der Generationenforschung: Eine junge Generation lässt sich nicht durch die unmittelbare Situation beeinflussen. Sie reagiert nicht sofort, sondern immer mit einem Zeitverzug. Sie wird jetzt erst mal beobachten: Was bedeutet das für uns? Kommen wir in Ausbildung und Beruf? Werden wir von Arbeitslosigkeit betroffen sein? Das ist noch nicht absehbar, aber davon wird es abhängen.
Wird die Krise in der Wahrnehmung junger Generationen zum Normalzustand?
Diese Generationen sind krisenerprobt. Sie sind groß geworden in einer Zeit, in der man sein Leben nicht mehr planen kann; wo man auf Sicht fahren muss; wo man nur eine Fünf-Jahres-Perspektive vor sich hat und nicht weiß, wie es danach weitergeht - ja nicht einmal weiß, wie die fünf Jahre genau aussehen. Wenn junge Leute so groß geworden sind, kann man davon ausgehen, dass ihre Grundbereitschaft und ihre Grundfähigkeit, mit Unsicherheiten und mit Krisen umzugehen, sehr ausgeprägt sind. Sie sind im Krisenmodus groß geworden und haben sicherlich in ihrer psychischen Disposition ein paar Narben davongetragen, aber sie werden viel besser durchkommen, als Eltern, Pädagogen oder Arbeitgeber denken mögen.
Was bedeutet diese Krise für den Ansatz der Generationenforschung? Wie tauglich ist ein Instrument wie der Generationenbegriff, wenn eine plötzliche Krise alles wieder über den Haufen wirft?
Dieser sehr einfache Ansatz, Alterskohorten zusammenzufassen danach, was sie gemeinsam erlebt haben, und anzunehmen, dass dieses gemeinsame Erleben gleichartige Verhaltensmuster, Einstellungen und Lebensstile hervorbringt, arbeitet ja genau damit. Jetzt haben wir eine neuartige Krise, die selbstverständlich Spuren hinterlassen wird bei denjenigen, die jetzt ihre formative Jugendzeit haben, die also jetzt zwischen 15 und 20 Jahre alt sind. Wir werden in einigen Jahren sehen, wie sie das verarbeiten und welche Spuren es hinterlässt. Also umgekehrt: Die Ereignisse - politische, kulturelle, wirtschaftliche, technische - sind es, die Generationen prägen.
Die aktuelle Krise spricht überhaupt nicht dagegen, von Generationen zu sprechen. Sie wirft nur die Frage auf: Was ist eine vernünftige Einteilung? Bleiben wir stur bei einer festen, summenhaften 15-Jahres-Einteilung der Generationen? Oder orientieren wir uns besser an Ereignissen wie Krisen, also an epochalen Veränderungen der Generationslagerung, um mit Karl Mannheim zu sprechen, statt auf den Kalender zu gucken. Es bietet sich an, nach solchen epochalen, großen Veränderungen politischer, wirtschaftlicher, kultureller, technischer Art zu gliedern.
Eine Großkrise oder Tiefenkrise wie die, die wir erleben, verändert den Rahmen, in dem Generationen sich formieren. Das heißt, wir müssen von der Formierung einer neuen Generation ausgehen?
Davon würde ich ausgehen. Diese tiefgreifende Krise spricht dafür, bei der Generationenforschung einen Schnitt zu machen. Und zu überlegen, was es bedeutet, wenn junge Leute in der formativen Phase ihrer Persönlichkeitsentwicklung eine so epochale Krise erleben. Wir müssen damit rechnen, dass sich durch die neue Lagerung auch eine neue Generationsgestalt bildet.
Die "formative Phase in der Persönlichkeitsentwicklung" - ist das für die Angehörigen einer Altersgruppe als Kollektiv, die Phase, in der sich gemeinsame Merkmale entwickeln, die dann die Grundlage bilden, sie als Generation zu begreifen?
Die formative Phase in der Persönlichkeitsentwicklung - im Alter von 13, 14, 15 bis etwa 20 Jahren - ist die Zeit, wo man sich selbst findet. Wo man sich mit sich selbst auseinandersetzen muss. Wo Körper und Psyche sich justierten, das Gehirn sich entwickelt und man anfängt, über sich selbst und die Welt zu reflektieren. Da wirkt selbstverständlich eine Krise stark hinein. Vor allem, wenn sich Unterschiede in den wirtschaftlichen, den beruflichen Zukunftsperspektiven ergeben. Denn das ist die entscheidende Dimension bei der Generationenprofilierung. Entscheidend auch für die jungen Leute in der Coronakrise: Wird es unsere beruflichen Möglichkeiten schmälern? Wird es Jugendarbeitslosigkeit geben? Auf dieser Ebene entwickeln sich letztlich die Generationenmuster, denn für eine junge Generation ist das A und O, wie sie in die Gesellschaft hineinkommen und wie sie dort einen Platz finden kann, wo sie sich ernähren und reproduzieren können.
Zum Schluss vielleicht noch: Sie schreiben, Jugendforschung ist Zukunftsforschung. In der jungen Generation bildet sich bereits ab, was die Zukunft prägen wird?
Genau. Man kann bei den jungen Leuten erkennen, welches die wichtigsten Herausforderungen für die Zukunft sind. Weil junge Leute in ihrem Selbstbezug intuitiv fragen, in was für eine Gesellschaft sie hineinkommen. Es ist ein seismographisches Verhalten, das junge Leute ganz naturgemäß mitbringen. Das liegt in dieser persönlichen Entwicklungsphase begründet. Indem sie so seismographisch reagieren, weisen sie intuitiv darauf hin, wo Engpässe, wo Probleme, wo Schwierigkeiten entstehen. Wenn man wissen will, welche Themen Bedeutung erlangen, dann sollte man die jungen Leute fragen. Die sind Prognostiker und in vielen Bereichen Trendsetter. Deswegen kann man sagen: Jugendforschung ist immer auch ein Stück weit Zukunftsforschung. Möglicherweise zeichnet sich in den aktuellen Bewegungen gegen Diskriminierung und Rassismus bereits ein neuer inhaltlicher Trend ab.
Ist das die Quintessenz aus Ihrer Arbeit mit dem Generationenbegriff?
Ja, das würde ich so sagen. Und Sie haben ja darauf hingewiesen: Der Generationenbegriff ist ein reines Konstrukt. Man darf ihn nicht verdinglicht sehen. Er bildet keine Realität ab. Sondern versucht, die Realität zu typisieren und zu kategorisieren. Der Generationsbegriff wird untauglich, wenn man ihn gewissermaßen ontologisch nimmt, also denkt, er würde tatsächlich Unterschiede von Menschen beschreiben. Es ist ein Hilfsbegriff, der anschaulich machen will, wie junge Menschen beim Eintritt in ihr Erwachsenenleben auf die Lebensherausforderungen reagieren, was sie dabei erfahren, welche Gefühle sie entwickeln, welche inhaltlichen Positionen ihnen wichtig sind. Der Begriff darf aber auf keinen Fall überladen werden, und man darf keinesfalls die Merkmale einer Generation auf alle Angehörigen der entsprechenden Altersjahrgänge übertragen. Diese Charakterisierung gilt immer nur für die meinungsführenden 30, 40 Prozent.
Haben wir jetzt in Bezug auf die Generation Greta etwas Wichtiges vergessen?
Auffällig ist die starke Rolle der jungen Frauen. Schon bei der Generation Y deutet alles darauf hin, dass junge Frauen mit unsicheren Lebensperspektiven insgesamt besser umgehen können als die jungen Männer. Im Bildungsbereich sind die jungen Frauen in den letzten 20, 25 Jahren immer besser geworden. Sie haben mittlerweile die Männer bei allen Bildungsabschlüssen überflügelt, strömen in die hochqualifizierenden Ausbildungsgänge und haben sich hervorragende berufliche Positionen erarbeitet. Das ist kein Zufall. Offenbar kommen junge Frauen mit einem Leben in Ungewissheit, mit Improvisieren, Umschalten, das Beste aus der jeweiligen Situation machen besser zurecht. Bei Fridays For Future ist das besonders auffällig. Die Bewegung ist von Mädchen und jungen Frauen dominiert. Zum ersten Mal wird eine politische Bewegung sehr stark von jungen, teilweise von sehr jungen Frauen gesteuert. Für Erik Albrecht und mich war das ein zusätzlicher Grund, einen weiblichen Namen für eine Generation vorzuschlagen. Das soll diese starke Rolle der Frauen symbolisch zum Ausdruck bringen.
Das Interview haben wir telefonisch geführt.
Zitate
"Nennen wir sie die Generation Greta." Klaus Hurrelmann: Z wie Greta
"Wir geben der Generation Z - das ist sozusagen die Ordnungsbezeichnung - einen inhaltlichen, symbolhaften Namen, so wie es auch bei den meisten Generationen davor der Fall war." Klaus Hurrelmann: Z wie Greta
"Zu sehen, wie die ältere Generation und die Politiker für richtig erkannte Beschlüsse und Erkenntnisse nicht umsetzen, sondern darüber hinweggehen, das hat die junge Generation sehr, sehr irritiert und ihr Vertrauen in die Zuverlässigkeit und Handlungsfähigkeit von Regierungen sehr stark erschüttert." Klaus Hurrelmann: Z wie Greta
"Die Generation Y war die erste Generation, die erlebte, dass alles möglich, aber nichts sicher ist. Dass man sein Leben nicht planen kann, sondern tentativ tastend, sondierend gucken muss, welche Chancen sich situativ ergeben, und diese opportunistisch nutzen muss: Schauen, wie man durchkommt." Klaus Hurrelmann: Z wie Greta
"Die Generation Greta hat sich aus der Komplexität gewissermaßen herausgenommen. Sie hat eine Entscheidung in den Vordergrund gestellt, die alle anderen Komplexitätsentscheidungen als nachgeordnet erscheinen lässt. Sie hat sozusagen ein Entscheidungskriterium gefunden, um die Komplexität von Handlungsmöglichkeiten und Lebensoptionen zu reduzieren." Klaus Hurrelmann: Z wie Greta
"Eine junge Generation lässt sich nicht durch die unmittelbare Situation beeinflussen. Sie reagiert nicht sofort, sondern immer mit einem Zeitverzug." Klaus Hurrelmann: Z wie Greta
"Die Ereignisse - politische, kulturelle, wirtschaftliche, technische - sind es, die Generationen prägen." Klaus Hurrelmann: Z wie Greta
"Diese tiefgreifende Krise spricht dafür, bei der Generationenforschung einen Schnitt zu machen. Wir müssen damit rechnen, dass sich durch die neue Lagerung auch eine neue Generationsgestalt bildet." Klaus Hurrelmann: Z wie Greta
"Man kann bei den jungen Leuten erkennen, welches die wichtigsten Herausforderungen für die Zukunft sind. Weil junge Leute in ihrem Selbstbezug intuitiv fragen, in was für eine Gesellschaft sie hineinkommen. Es ist ein seismographisches Verhalten, das junge Leute ganz naturgemäß mitbringen." Klaus Hurrelmann: Z wie Greta
"Wenn man wissen will, welche Themen Bedeutung erlangen, dann sollte man die jungen Leute fragen. Die sind Prognostiker und in vielen Bereichen Trendsetter." Klaus Hurrelmann: Z wie Greta
"Fridays For Future ist von Mädchen und jungen Frauen dominiert. Zum ersten Mal wird eine politische Bewegung sehr stark von jungen, teilweise von sehr jungen Frauen gesteuert." Klaus Hurrelmann: Z wie Greta
"Jugendforschung ist immer auch ein Stück weit Zukunftsforschung." Klaus Hurrelmann: Z wie Greta
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Klaus Hurrelmann, Erik Albrecht: Generation Greta. Was sie denkt, wie sie fühlt und warum das Klima erst der Anfang ist. Beltz Verlag, Weinheim Basel 2020, 271 Seiten, 19.95 Euro (D), ISBN 978-3-407-86623-3
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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