Urlaub macht dumm
Sie freuen sich schon auf Ihren Urlaub? Freuen Sie sich nicht zu früh! Wer nicht aufpasst, muss damit rechnen, dass er deutlich dümmer aus den Ferien zurückehrt, als er hingefahren ist. Denn faulenzen lässt die geistige Leistungsfähigkeit rapide sinken. Ein Intelligenz-Experte sagt: Wer sein Gehirn nicht täglich auf Trab bringt, muss mit Schwund im Oberstübchen rechnen. Denn unser Gehirn verzeiht eines nicht: Monotonie und Langeweile. Wie es scheint, ist der klassische Urlaub ein Auslaufmodell.
Siegfried Lehrl, geboren 1943, ist Diplom-Psychologe. Er beschäftigt sich mit der Messung und Veränderung der geistigen Leistungsfähigkeit von Gesunden und Kranken. Er ist Akademischer Direktor an der Psychiatrischen Klinik der Universität Erlangen-Nürnberg. Seit 1997 ist er Vorsitzender der 1989 von ihm mitgegründeten Gesellschaft für Gehirntraining e. V.
Herr Lehrl, Sie haben sich mit den Auswirkungen von Urlaub auf die Leistungsfähigkeit des Gehirns beschäftigt. Kann man das so sagen: Urlaub macht dumm?
Ja, das gilt für Faulenzerurlaub. Man kann klar sagen: Faulenzerurlaub macht dumm. Messungen zeigen, dass Personen, die geistig nicht gefordert werden, binnen weniger Tage schon nachlassen. Untersucht hat man das an Personen, die zur Beobachtung in der Klinik waren, das war wie im Urlaub. Sie hatten schon nach fünf Tagen fünf IQ-Punkte Verlust, nach drei Wochen bereits 20 IQ-Punkte. Also pro Tag einen IQ-Punkt im Schnitt.
Sagen wir zwei Wochen Türkische Riviera, Strandurlaub. Was bringt das an verminderter Leistungsfähigkeit?
Das würde ungefähr 14, 15 IQ-Punkte Minderung bringen. Das entspricht in etwa der Differenz zwischen Universitätsstudent und Durchschnittsbevölkerung.
Und zwei Wochen Mallorca, Ballermann?
Ja, da kommt der Alkohol noch dazu - das führt unmittelbar zu weiteren Verlusten.
Und wie lange dauert es, bis man urlaubsbedingte Einbußen an geistiger Leistungsfähigkeit wieder wettgemacht hat?
Ungefähr den gleichen Zeitraum. Wenn man es überhaupt ganz wettmachen kann - ob etwas zurückbleibt, ist eine offene Frage. Also wer 14 Tage lang nicht viel getan hat, braucht 14 Tage in der alten Umgebung, bis er wieder so ist, wie er vorher war. US-Studien zeigen übrigens an Schülern, dass das genauso die Ferien betrifft. In den USA hat man in den verschiedenen Bundesstaaten bis zu zwei, drei Monate Sommerferien. Untersuchungen dort gehen davon aus, dass die Schüler genauso lange brauchen, um den Stand, den sie vor Ferienbeginn hatten, wieder aufzuholen. Wenn die Schüler also drei Monate Sommerferien hatten, sind sie erst nach einem halben Jahr wieder so weit wie vor den Ferien. Das hat natürlich immense wirtschaftliche Folgen. So fallen die Schüler im Vergleich zu Koreanern, die viel weniger Ferien haben, immer weiter ab. Man befürchtet deshalb, an Konkurrenzfähigkeit mit dem Ausland einzubüßen.
Dennoch ist ja Erholung sicher notwendig, sowohl für Schüler als auch für Menschen, die arbeiten. Wie sieht denn aus Sicht des Gehirns eine optimale Erholung aus?
Es hängt davon ab, wie man sonst lebt. Da ist zunächst die Frage, wie lange die Erholung sein muss. Das hängt von den Rahmenbedingungen der Arbeit ab. Ich habe zum Beispiel Arbeitsbedingungen, da brauche ich genau genommen keinen Urlaub, und das gilt auch für viele andere Menschen in meinem Umfeld. Aber Personen, die sehr viel Routinearbeit tun müssen oder immer unter Stress stehen, die müssen sich mal erholen können.
Und wie sieht der ideale Gehirn-Urlaub aus?
Wenn man sehr viel Stress im Beruf hatte, dann kann man sich durchaus die ersten ein, zwei Tage gehen lassen. Aber am dritten Tag sollte man schon wieder einiges unternehmen, wo man den Kopf einschalten muss. Das können Spiele sein, Sudoku oder Doktor Kawashimas Gehirn-Jogging. Aber auch Brettspiele wie Schach, Skat, Rommé, Bridge, Canasta sind hervorragend - gegen etwa gleichstarke Gegner, wohlgemerkt. Oder man unternimmt im Urlaub etwas, Wanderungen zum Beispiel. Da lernt man wenigstens die Umgebung kennen und bewegt sich.
Also ist es dieses faul Herumliegen am Pool, am Strand, das diese Einbußen verursacht?
Ja. Wenn ich allerdings stumpfsinnig an Führungen teilnehme und nur in der Gruppe mitlaufe, bringt das auch nicht viel. Anders, wenn ich selbst die Führung mache und mich genauer vorbereiten muss.
Was ist ausschlaggebend für das Gehirn: die Dauer der Beanspruchung je Tag oder dass es überhaupt gefordert ist?
Es muss wenigstens einmal richtig gefordert werden, die Zeitdauer ist sekundär. Aber natürlich macht es einen Unterschied, ob ich mich eben mal eine Minute mit einem komplexeren Problem beschäftige, oder ob ich das 45 Minuten mache. Denn wichtig ist ja auch, dass man sich länger konzentrieren kann, und das lässt sich nur durch längere geistige Beschäftigung trainieren - übrigens auch indirekt, indem man Sport macht, bei dem das Herz-Kreislauf-System trainiert wird. Wenn man sich länger geistig mit etwas beschäftigt, wird nämlich das Herz-Kreislauf-System stark belastet. Immer wenn man nachdenkt, geht der Blutdruck hoch, der Puls wird schneller, die Atemfrequenz nimmt zu; das ist ein bisschen wie innerer Sport. Jemand, der ein trainiertes Herz-Kreislauf-System hat, hält im Beruf, im Alltag länger durch.
Ist es richtig, dass sportliche Betätigung, also Ausdauertraining, sich positiv auf das Gehirn auswirkt?
Nicht unbedingt - man kann auch stumpfsinnig Sport machen. Es wirkt sich dann positiv aus, wenn man nicht auf die Spitzenleistung, sondern auf die Ausdauerleistung achtet. Das Training muss dosiert sein, man darf sich nicht überfordern. Wenn das Herz-Kreislauf-System trainiert ist, kann man wie gesagt länger über etwas nachdenken oder an einem geistigen Problem arbeiten. Aber wenn ich beim Sport gar nicht denke, bringt es nur was für die Ausdauerleistung, nicht aber für die geistige Leistungsfähigkeit.
Anders ist es, wenn ich während des Ausdauertrainings meinen Kopf einschalte. Das geht ja, ein Teil der Läufer macht das gerne. Sie werden im Laufen dann kreativer, können Probleme viel leichter lösen. Wenn man also geistige Tätigkeit und monotone Bewegungsleistung miteinander verbindet, dann hat das Gehirn auf der ganzen Linie was davon.
Noch mal zurück zu den Leistungsverlusten im Urlaub, zu den Leistungseinbußen. Was passiert da eigentlich im Gehirn? Gehen da neuronale Verknüpfungen verloren?
Ja, es gehen auch neuronale Verknüpfungen verloren, aber auch die Produktion wichtiger Botenstoffe wie Dopamin, Acetylcholin und Noradrenalin nimmt ab. Sie versiegt nicht gleich, wird aber geringer. Dadurch verfügt man beim Denken nicht so schnell über diese Botenstoffe, wie man sie benötigt. Zudem leidet aber auch die Dichte des Gefäßsystems, das das Gehirn mit Sauerstoff versorgt. Das sind kleine Haargefäße, durch die sich die roten Blutkörperchen durchschlängeln müssen, um den Sauerstoff an die Nervenzellen zu bringen. Und wir brauchen ja ständig Sauerstoff. Dieses System der Versorgung des Gehirns mit Sauerstoff wird durch mangelnde Übung nicht nur weniger durchblutet, arbeitet weniger und wird leichter. Die Grundstruktur bleibt zwar erhalten, aber eben nicht in dieser Dichte wie bei einem Gehirn, das voll gefordert wird.
Gehen wir mal zurück zu Ihrer These vorhin: Man könne seine Arbeitsbedingungen so gestalten, dass man eigentlich keinen Urlaub braucht ...
... den hatten ja die Leute früher ohnehin großteils nicht. Urlaub wurde ja erst vor etwa 200 Jahren eingeführt.
Ist Urlaub ein Auslaufmodell?
In der heutigen Gesellschaft sicher nicht. Aber das spiegelt auch den Mangel dieser Gesellschaft wider. Wir haben Arbeitsbedingungen geschaffen, die für die Mehrheit der Menschen nicht erfüllend sind. Deswegen fliehen die Leute aus dieser Umgebung und gehen in Urlaub. Wenn jemand stets monotone Arbeiten verrichten muss, auf bestimmten Gebieten nicht gefordert wird oder immer unter Stress steht, dann gehen die Arbeitsbedingungen an der Verfassung des Menschen vorbei.
Sollten in den Unternehmen selbst Möglichkeiten für Entspannung, für Erholung, für Fitness geschaffen werden? Und sollte man den Leuten die Freiheit geben, sich während der Arbeit zu entspannen und zu erholen?
Ja, auf jeden Fall. Je nachdem, wie geistig fordernd eine Tätigkeit ist, können wir maximal eine Stunde bis 90 Minuten am Stück hohe Leistung bringen. Dann brauchen wir Entspannung, gerade in der Mittagszeit, wenn diese Mittagstiefs entstehen, selbst wenn man nichts isst. Und wenn man in dieser Zeit etwas mit viel Fett isst, dann wird es noch schlimmer. Wenn man aber in dieser Zeit entspannt, ist man hinterher wieder frisch. Ein kurzer Schlaf nach der Mittagszeit wäre ideal. Wenn einem Unternehmen daran liegt, dass ein Arbeitnehmer besonders viel leistet, dann müsste es ihm solche Entspannungssituationen gönnen. Denn dann hält er länger durch. Und produziert auf längere Sicht weit mehr als sonst.
Im Grunde müssten wir unseren überkommenen Arbeitsrhythmus komplett umstellen? Also auf den Tag bezogen mehr Pausen, auf das Jahr bezogen kürzere Urlaube und dafür häufiger?
Genau. Dafür würde ich auch plädieren. Kürzere Urlaube, dafür häufiger. Und im Betrieb die Möglichkeit schaffen, auch zwischendrin zu entspannen. Je nach Lage, es läuft nicht jeder Tag wie der andere. Aber Schwerpunkte sind zum Beispiel in der Zeit am frühen Nachmittag. Da haben wir ja, biologisch vorgegeben ist das, die Tiefs, die zum Teil als sehr unangenehm erlebt werden. Wenn jemand in dieser Zeit nur zwei, drei Minuten völlig entspannen kann, dann ist er zehn, 20 Minuten später wieder so fit, dass für manche praktisch ein neuer Arbeitstag beginnt. Die schleppen sich dann nicht dahin, sondern wollen was tun. Sie haben einen Überschuss an Energie, sie fühlen sich wohl und bringen auch mehr Leistung, als wenn sie sich nur so dahinquälen - was bei vielen ja der Fall ist.
Zitate
"Faulenzerurlaub macht dumm. Messungen zeigen, dass Personen, die geistig nicht gefordert werden, binnen weniger Tage schon geistig nachlassen." Interview Siegfried Lehrl: Urlaub macht dumm
changeX 14.07.2008. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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