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Im Klimatunnel

Hans Joachim Schellnhuber über kalte Winter, warme Sommer und komplexe Systeme. Ein Interview.
Text: Winfried Kretschmer

Der Winter war kalt. Und der Sommer wird heiß. Was heißt das für das Klima der Welt? Wenig. Ganz nüchtern betrachtet haben wir: erstens eine nicht widerlegte, gut bestätigte Theorie der globalen Erwärmung. Zweitens alternative Erklärungen, die Zweifel an ihr säen, sie aber nicht widerlegen. Drittens wenig Zeit, wenn sie richtig ist. Und viertens ist, was zu tun ist, ohnehin zu tun: die Umstellung auf nicht fossile Energien. Kann jemand sagen, worauf wir warten?

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Relativitätstheorie. Quantenmechanik. Komplexe nicht lineare Systeme, die sich abrupt ändern können. Das waren die physikalischen Spezialgebiete, auf denen er sich heimisch fühlte. Und vor allem: die Komplexität. Zur Klimaforschung kam er auf Umwegen: Heute ist Hans Joachim Schellnhuber einer der führenden Klimaforscher weltweit.  

Seine Vita in Kürze: Hans Joachim Schellnhuber, geboren 1950 in Ortenburg, ist Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung seit dessen Gründung im Jahr 1991. Er lehrt Theoretische Physik an der Universität Potsdam und ist External Professor am Santa Fe Institute in den USA. Er berät die Bundeskanzlerin, ist Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) und Mitglied der Sachverständigengruppe „Energie und Klimawandel“ des Präsidenten der EU-Kommission José Manuel Barroso. Er ist unter anderem Mitglied der US National Academy of Sciences und langjähriges Mitglied des Weltklimarates (IPCC), dem im Jahr 2007 der Friedensnobelpreis verliehen wurde. 

Dennoch sagt er: „Ich würde mich freuen, wenn die Hypothese von der vom Menschen gemachten globalen Erwärmung widerlegt würde – weil die Menschheit dann ein riesiges Problem weniger hätte.“
 

Herr Schellnhuber, wir haben einen sehr harten Winter hinter uns. Hat Sie das verunsichert? 

Man muss unterscheiden zwischen dem, was man als lokales Wetter wahrnimmt, und dem globalen Klima. Für den Laien ist das sicherlich nicht selbstverständlich. Um die Klimaentwicklung zu erkennen, mitteln wir Wissenschaftler Daten über den gesamten Globus und betrachten längerfristige Trends, die über 30 Jahre reichen und aus dem Rauschen des Wetters herausscheinen. Das haben wir auch getan, als dieser kalte Winter in Nord- und Mitteleuropa herrschte: Wir haben geschaut, was im Rest der Welt passiert – und da zeigte sich, dass es in den meisten Teilen der Welt zur gleichen Zeit erheblich wärmer geworden ist. Trotz des relativ kalten Winters in Europa ist dieses Jahr sogar auf Rekordkurs, was die globale Mitteltemperatur angeht! Damit werden die Schneeverwehungen, die es im Hunsrück und anderswo gab, wieder in die richtige Perspektive gerückt.
 

Wetterereignisse haben keine Bedeutung für die These von der globalen Erwärmung? 

Sie haben Bedeutung, aber sie sind gewissermaßen die Arabesken, die einen langfristigen Trend umspielen. Wenn es in diesem Sommer in Deutschland 42 Grad Celsius würde, wäre dies ebenso wenig ein Beweis für die globale Erwärmung. Das gilt in beide Richtungen. Bei einem hochkomplexen System müssen wir Mittelungen über hinreichende geografische Ausdehnung und zeitliche Dauer durchführen – erst dann können wir den globalen Klimatrend im Rauschen des Wetters erkennen.
 

In dem Medienspektakel, das sich um diesen kalten Winter entfaltet hat, erhielten auch andere Theorien Aufmerksamkeit, zum Beispiel die Sonnenaktivität. Stichwort Sonnenflecken. 

Ja. Aber das Sonnenargument spricht gerade gegen diejenigen, die damit die globale Erwärmung infrage stellen. Denn global war das Jahr 2009 das zweitwärmste seit Beginn der Aufzeichnungen vor 130 Jahren. Und das, obwohl die Sonnenaktivität im Augenblick besonders gering ist. Das heißt: Wenn die Sonne wirklich ausschlaggebend wäre, dann hätten wir eines der kältesten Jahre der letzten 100 Jahre erlebt. Insgesamt kann die Sonne aber nur in der Größenordnung von etwa 0,1 bis 0,2 Grad Celsius zur Erwärmung beitragen. Das ist ein verschwindend geringer Anteil – der Treibhauseffekt überwiegt das bei Weitem.
 

Theorien haben es an sich, dass Sie falsch sein können. Was wäre, wenn die Theorie von der globalen Erwärmung falsch wäre? 

In der Physik haben Sie niemals eine absolute Gewissheit. Denn anders als in der Mathematik gibt es in den Naturwissenschaften niemals den endgültigen Beweis. Insofern kann ein Forscher allenfalls sagen: Ich habe eine Hypothese formuliert, es spricht vieles dafür, und sie ist bisher nicht widerlegt worden. Aber in dem Moment, wo ein Experiment oder eine Beobachtung das Gegenteil bezeugt, müssen wir diese Hypothese verwerfen.
 

Was bedeutet das für die Klimafrage? 

Zunächst einmal würde ich mich freuen, wenn die Hypothese von der vom Menschen gemachten globalen Erwärmung widerlegt würde – weil die Menschheit dann ein riesiges Problem weniger hätte. Hier geht es nicht um wissenschaftliche Reputation und Forschungsgelder – es steht einfach zu viel auf dem Spiel! Was wäre dann? Dann hätte man sich geirrt, was in der Geschichte der Wissenschaft permanent passiert. Wo könnten wir uns irren? Theoretisch könnte es sogenannte negative Rückkopplungen geben, also Mechanismen im System Erde, die diesen Erwärmungstrend blockieren. Das könnten Effekte sein, die die Erwärmung entweder direkt abschwächen oder die der Atmosphäre riesige Mengen Kohlendioxid entziehen, etwa durch bisher unbekannte Effekte in der Vegetation oder der Atmosphärenchemie. Das Problem ist nur, dass es für nichts in dieser Hinsicht irgendeine überzeugende Theorie gibt.
Das heißt, es besteht folgende wissenschaftstheoretische Situation: Wir haben gute, aber nicht perfekte Erklärungen für die bisherigen Trends und Erwartungen für die Zukunft, basierend auf physikalischen Gesetzen, Satellitendaten, Computersimulationen – also der besten Maschinerie, die wir zur Verfügung haben. Aber es gibt auch Lücken, insofern steht es jedem frei zu sagen: „Ich glaube dem nicht.“ Aber die Alternativerklärungen, die zu begründen versuchen, dass es keine globale Erwärmung gibt oder dass der Mensch keinen Einfluss hat, sind unendlich viel schlechter. Und wenn ich zwischen dem Guten und dem Miserablen zu wählen habe, dann wähle ich in der Regel das Gute.
 

Wir haben es mit einer gut bestätigten Theorie zu tun? 

Ja. Wir haben es mit einer bisher nicht widerlegten Theorie zu tun, für die aber sehr, sehr viel spricht und die mit allen bisherigen Beobachtungen übereinstimmt. Das ist das Beste, was man von einer Theorie sagen kann! Dem gegenüber stehen zum Teil bizarre Überlegungen und Vermutungen ohne die geringsten Belege. Es entspricht aber nicht der guten wissenschaftlichen Praxis, sich irgendeine Erklärung zusammenzubasteln, für die keine konsistente Theorie vorliegt. Das ist, wie wenn man Horoskop liest. 50 Prozent der Deutschen glauben, dass Horoskope wahr sind und die Zukunft vorhersagen. Trotzdem behaupte ich, dass Horoskope danebenliegen.
 

Die Entscheidung, was wir tun, ist also eine Entscheidung unter Unsicherheit. Was wäre denn die Konsequenz, wenn wir warten würden, bis die Theorie noch besser bestätigt ist? 

Sie haben völlig recht. Es ist ein ganz entscheidender Punkt: Letztendlich geht es um Risikomanagement, um Entscheidung unter Unsicherheit. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Mensch der Hauptverursacher ist und dass der Erwärmungstrend weitergeht, ist extrem hoch – sie liegt in einer Größenordnung von über 90 Prozent. Deshalb ist das zweite Argument, das Vorsorgeprinzip, umso wichtiger: Die Forschung zeigt, dass das System Erde so angelegt ist, dass man nicht mehr zurück kann, wenn man bestimmte Weichen überfahren hat. In diesem System gibt es „Points of no Return“. Und wer mutwillig diese Punkte überfährt und die Weichenstellungen missachtet, der handelt verantwortungslos. Wenn das System komplett linear wäre, würde man einfach wieder umdrehen, wenn man feststellt, dass man sich getäuscht hat. Im System Erde gibt es aber einige Punkte, an denen man nicht mehr umdrehen kann. Wenn der grönländische Eisschild erst einmal destabilisiert ist, haben wir einen Meeresspiegelanstieg von sieben Metern. Dann müssten wir sämtliche bewohnten Küstenzonen der Erde absichern – und ich möchte wissen, wie das funktionieren soll!
 

Sie haben gesagt, dass es immer Phänomene geben kann, die der globalen Erwärmung entgegenwirken. Gibt es umgekehrt Effekte, die sie beschleunigen? 

Wir sprechen von negativen und positiven Rückkopplungen: Positive verstärken eine Störung, negative hemmen sie. Eine typische negative Rückkopplung ist, dass die Ozeane sehr viel Kohlendioxid aufnehmen. Auch Pflanzen wachsen schneller, wenn mehr Kohlendioxid in der Luft ist, und nehmen einen großen Teil davon auf – sonst hätten wir schon eine viel drastischere Erwärmung. Aber es gibt Faktoren, die durch Selbstverstärkungsprozesse die Erwärmung weiter hochtreiben, wie zum Beispiel das Auftauen der Permafrostböden oder die Zersetzung sogenannter Methanhydrate, die auf dem Ozeangrund lagern. Wenn diese nach und nach durch die globale Erwärmung mobilisiert würden, kämen ungeheure zusätzliche Mengen von Treibhausgasen in die Atmosphäre. Dann gäbe es kein Bremsen mehr. Selbstverstärkungsprozesse könnten die Erde langfristig so stark erwärmen, dass dies das Ende unserer Hochzivilisation bedeuten würde.
 

Ist der Klimawandel eine Herausforderung für traditionelle Denkgewohnheiten? 

Ja, auf vielfältige Weise. Das Wichtigste dabei ist Langfristdenken gegen Kurzfristdenken. Denn die Probleme, über die wir reden, werden in einem Zeithorizont von 50 bis 100 Jahren virulent. Hinzu kommt, dass es auch eine Distanz gibt zwischen denjenigen, die in Klimaschutz investieren müssen, und denjenigen, die davon profitieren. Letztere sind kommende Generationen, und es sind auch Menschen, die auf der anderen Seite des Planeten auf einer Insel sitzen. Das ist natürlich eine ungeheure Herausforderung für das Individuum: Wir sind gewohnt, für uns selbst oder für unsere Familie allenfalls für die nächsten Jahre zu sorgen.
Insofern erfordert der Klimawandel, dass man die moralische Verantwortung für die Zukunft und für Menschen übernehmen muss, mit denen man nie etwas zu tun haben wird. Diese Herausforderung ist bislang beispiellos und ihre Bewältigung setzt Einsicht voraus. Aber ob die Vernunft sich wirklich durchsetzen und in Handeln umgesetzt wird – ich weiß es nicht. Aber was ist die Alternative?
 

Schön, dass Sie die ethische Dimension zuerst ansprechen, ich wollte aber zunächst auf eine andere Herausforderung hinaus: Wir sind es gewohnt, in einfachen Kausalitäten zu denken. Welche Bedeutung haben Komplexität und Nichtlinearität in der Klimafrage? 

Diese Problematik ist genauso abstrakt und schwierig zu vermitteln wie die ethische Dimension. Denn die allerwenigsten Menschen sind in der Lage, in Nichtlinearitäten oder komplexen Ursachenzusammenhängen zu denken. Die meisten denken: Es wird einfach so weitergehen. Die Physik – und deswegen ist sie auch eine Leitwissenschaft im Umgang mit solchen Zukunftsproblemen – deckt aber Nichtlinearitäten und komplexe Kausalitäten auf. Fast jedes Naturgesetz ist nicht linear: das Gravitationsgesetz, die elektrische Anziehung und Ähnliches. Gerade im Zusammenhang mit großen Zukunftsthemen wie der Klimafrage und der Nachhaltigkeit brauchen wir einen viel stärkeren Dialog zwischen der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft, um zu lernen, in komplexen Zusammenhängen zu denken. Vielleicht hat die Wissenschaft versäumt, rechtzeitig auf die Gesellschaft zuzugehen.
 

Zu diesen Denkgewohnheiten gehört auch das Festhalten am Gewohnten, am Althergebrachten. Doch an einer Umstellung des Energiesystems auf nicht fossile Energien kommen wir ohnehin nicht vorbei – ist also nur mit Dringlichkeit zu tun, was ohnehin zu tun ist? 

Natürlich wird die Menschheit, wenn der letzte Öltropfen ausgequetscht ist, zu anderen Energieformen übergehen. Das Problem ist, dass wir bis dahin das Klima schon destabilisiert hätten. Das heißt, wir müssten eigentlich die Reform der Energiesysteme klimabedingt um ein Jahrhundert vorziehen. Dies würde uns ohnehin guttun, weil es bei schwindenden Ressourcen die schlechteste Strategie ist, auf dem alten Pfad weiterzumachen, bis die Preise in den Himmel schießen. Der Klimawarnschuss ist für die Gesellschaft ein außerordentlich wichtiger Fingerzeig, mit Ressourcen besser umzugehen. Insofern ist das Klima nur die Spitze des Nachhaltigkeits-Eisberges. Wir sollten die Klimaproblematik dahin gehend interpretieren, dass wir insgesamt ein neues Leitbild für das Wirtschaften brauchen.
 

Sie haben das Bild eines Quantentunnels benutzt, um die Bedeutung von Vorreitern, von Pionieren deutlich zu machen. Wie können diese den Wandel beschleunigen? 

Wir befinden uns in einem Zustand, von dem wir wissen, dass er nicht zukunftsfähig ist. Das Öl wird auf jeden Fall irgendwann aufgebraucht sein. Wir müssen in einen anderen Zustand wechseln, aber dazwischen liegen große Hürden, die wir erst einmal überwinden müssen. Diese Energie wird die Gesellschaft aber vielleicht nicht aufbringen; sie wird warten, bis sie in ihrem jetzigen Zustand – im übertragenen Sinn – verhungert ist. Denn neun Milliarden Menschen nachhaltig mit fossilen Brennstoffen auszustatten, das wird nicht gehen – und nebenbei würde man noch das Klima ruinieren.
Insofern ist die Frage: Kann man einen Tunnel, eine Abkürzung finden? Ich glaube, es wird nicht möglich sein, das gesamte System durch einen Tunnel zu bewegen, denn Tunnel sind schmal. Es braucht Pioniere, die sich durch diese enge Passage zwängen und klarmachen: Es lohnt, sich dorthin zu bewegen. Es muss eine Vorhut geben, die Dinge exploriert. Diese Vorhut muss auch Botschafter sein und ihre Erkenntnisse kommunizieren. Das können mittelständische Unternehmen sein, die plötzlich etwas tun, was nach bisherigen Überlegungen nicht wirtschaftlich ist, aber trotzdem prosperieren. Das können kleine Kommunen sein, die sich auf 100 Prozent erneuerbare Energien umstellen oder die Energieeffizienz um 80 Prozent erhöhen. Das sind Pioniere, die sich durch Tunnel, Lücken und Nischen zwängen, die es in der Gesellschaft auch jetzt schon gibt: Das wäre gewissermaßen ein gesellschaftlicher Tunneleffekt.
 

Porträtfoto: Foto Hollin
 


Zitate


"Wir haben es mit einer bisher nicht widerlegten Theorie zu tun, für die aber sehr, sehr viel spricht und die mit allen bisherigen Beobachtungen übereinstimmt. Das ist das Beste, was man von einer Theorie sagen kann!" Hans Joachim Schellnhuber zur globalen Erwärmung

"Ich würde mich freuen, wenn die Hypothese von der vom Menschen gemachten globalen Erwärmung widerlegt würde - weil die Menschheit dann ein riesiges Problem weniger hätte." Hans Joachim Schellnhuber: Im Klimatunnel

 

changeX 07.07.2010. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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