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Erst sparen, dann leihen
Mikrokredite sind in Misskredit geraten. Überschuldung und überhöhte Zinsen haben am Lack gekratzt. Der Ruf des Wundermittels gegen Armut ist dahin. In Afrika breitet sich nun ein alternatives Modell aus: Sparen und Leihen. In lokalen Sparklubs wird gespart, aus dem Ersparten erhalten die Mitglieder Darlehen. Verschuldung gibt es nicht, und zugleich üben die Gemeinschaften eine nachhaltige Zukunftsperspektive ein: Wirtschaften aus eigener Kraft.
Günther Schmid engagiert sich für Afrika. Zusammen mit seiner Frau hat er eine Stiftung gegründet, die Kinder in Ostafrika unterstützt. Und hat dort ein Entwicklungsmodell kennengelernt, das das Interesse des Sozialwissenschaftlers geweckt hat: Sparen und Leihen. Schmid hat die Literatur zur Mikrofinanzierung gesichtet und empfiehlt dieses Modell als nachhaltige Alternative zu Mikrokrediten.
Günther Schmid ist Professor Emeritus für Ökonomische Theorie der Politik an der Freien Universität Berlin. Von 1989 bis 2008 war er Direktor der Abteilung "Arbeitsmarktpolitik und Beschäftigung" am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Zusammen mit seiner Frau Barbara Schmid-Heidenhain hat er den Child Development Fund (CDF) gegründet, der die persönliche Entwicklung von benachteiligten Kindern in Ostafrika unterstützt.
Herr Schmid, nach anfänglich großer Euphorie sind Mikrokredite in Misskredit geraten. Ernüchterung ist eingekehrt. Was ist passiert?
Zunächst waren die Erwartungen in die Form von Mikrokrediten, wie sie Muhammad Yunus und seine Grameen Bank propagierten, überhöht. Aufgrund der zu hohen Erwartungen sind zu viele Kredite aufgenommen worden. Und es sind Mikrokreditunternehmen auf den Zug aufgesprungen, die - anders als die Grameen Bank - horrende Zinsen verlangt haben. Im Durchschnitt betragen die Zinsen für Mikrokredite pro Jahr ungefähr 35 Prozent, andere Zahlen sagen 28 Prozent. Da einzelne Kredithaie bis zu 50, 100 oder gar 150 Prozent Zinsen verlangten, haben sich viele Mikrokreditnehmer überschuldet und sind in totale Abhängigkeit von den Mikrokredithaien geraten.
Erscheinungen also, wie man sie bei Kreditblasen ganz allgemein beobachten kann?
Ja, genau.
28 bis 35 Prozent, das sind beachtliche Zinssätze - etwa das Doppelte der in Deutschland so scharf kritisierten Dispokredite ...
Das ist richtig. Hinzu kommt, dass das Modell der Mikrokredite sein eigentliches Ziel verfehlt hat. Schätzungsweise 90 Prozent aller Mikrokredite werden nicht für Existenzgründungen verwendet, die wirtschaftlich nachhaltig sind, sondern fließen in den Konsum. Es entsteht eine Basarwirtschaft, die aber kaum dazu beiträgt, die Ökonomie nachhaltig weiterzuentwickeln. Dazu bedarf es größerer Investitionen, in Bewässerungssysteme, in Produktionsanlagen, in Bildung. Bildung ist ein weiterer Punkt: Muhammad Yunus selbst hat immer gesagt: Das Problem ist nicht Bildung, das Problem ist einzig und allein der Kapitalzugang. Die Mikrokreditbewegung setzt nicht auf Bildung, sondern preist Kredite für kleine Gewerbetreibende geradezu als Wundermittel für die Entwicklung armer Länder. Das ist eine problematische Sicht.
Bildung ist der entscheidende Faktor für Entwicklung, gerade auch ökonomisch?
Eindeutig ja. Gerade für größere Investitionen zur Modernisierung der Landwirtschaft, die in den Entwicklungsländern das A und O ist, braucht es eine höhere Bildung. Es braucht Kenntnisse der Produkte, Kenntnisse von Maschinen und Märkten, Kenntnisse der Sprache. Doch gerade die sprachlichen Fähigkeiten sind vielfach katastrophal. Selbst die einheimische Sprache wird von vielen einfachen Menschen auf dem Lande kaum beherrscht, geschweige denn geschrieben oder verstanden.
Sie sind nun auf ein anderes System der Mikrofinanzierung gestoßen, das sich derzeit ausbreitet: Sparen und Leihen. Wie kam das?
Durch Zufall. Wir unterstützen mehrere Patenkinder in Ostafrika. Bei Besuchen dort sind wir auf Sparen und Leihen aufmerksam geworden. Das System funktioniert kurz gesagt so: Es bilden sich Gemeinschaften zum Sparen, die dann aus den angesammelten kleinen Sparbeträgen innerhalb der Gemeinschaft Darlehen vergeben. Wir haben nun erlebt, dass diese Darlehen vielfach dazu verwendet werden, um Schulgeld zu finanzieren. Dies war der Anlass für uns, unsere kleine Stiftung zu gründen, die Schulstipendien vergibt - das auch mit dem Ziel, indirekt diese Spar- und Kreditgruppen zu unterstützen und es ihnen zu ermöglichen, ihr mühsam erspartes Geld in kleine Geschäfte investieren zu können, statt es für Schulgelder, Schuluniformen, Lehrmaterialien auszugeben.
Wie funktioniert Sparen und Leihen nun genau? Es sind kleine Sparklubs, die da gegründet werden?
Ja, kleine Sparklubs. Die Idee knüpft an vorhandene kulturelle Traditionen in Afrika an. Dort gibt es zum Beispiel das Modell "Money go round": Das sind familiäre Nachbarschaftsgruppen, deren Mitglieder kleine Beträge in einen gemeinsamen Korb geben, wobei jeder in der Gruppe das leihen kann, was dort hineingegeben worden ist. Daran knüpft die Idee Sparen und Leihen an, versucht das Sparen aber systematischer zu organisieren, die Beiträge regelmäßiger zu erheben und das Sparkapital zu erweitern. Das System ist für die Ärmsten der Armen gedacht. Sparen und Leihen soll in erster Linie die Armut von Familien auf dem Lande oder in städtischen Slums überwinden. Es gewährleistet ein Dreifaches: Zugang zu Kapital, Sicherheit und Autonomie.
Quasi eine Anleitung zu ökonomischer Selbsthilfe?
Ja, eine Anleitung zu ökonomischer Selbsthilfe und zur Selbstorganisation. Das Grundprinzip von Sparen und Leihen ist die Selbstorganisation einer Gruppe von zehn bis 30 Mitgliedern, die vereinbaren, gemeinsam freiwillig zu sparen und durch Darlehen einander auszuhelfen. Aus dem gemeinsam Ersparten können sich die Mitglieder dann gegen einen Zinssatz von meist zehn Prozent Geld ausleihen. Die Darlehen sollen binnen mehrerer Wochen, spätestens nach sechs Monaten zurückgezahlt werden. So entsteht ein wachsender Kapitalstock, der im Idealfall immer größere Darlehen und entsprechende größere Investitionen ermöglicht. Nach einem Jahr entscheidet die Gruppe einvernehmlich über die Auszahlung der Gewinne und darüber, ob die Gruppe in einen weiteren Zyklus eintreten will. Auch ob neue Mitglieder zugelassen oder alte Mitglieder bei Auszahlung ihres Anteils entlassen werden, wird gemeinsam entschieden. Es ist ein sehr lebendiges Verfahren. Und die Selbstdisziplinierungsmaßnahmen sind sehr streng.
Sie sagen, es geht um die Ärmsten der Armen. Kommt da überhaupt was zusammen?
So paradox es klingen mag: Selbst Arme können sparen, und kleine Sparleistungen summieren sich in der Gruppe zu beachtlichen Beträgen. Auch wenn die Sparbeiträge klein sind - umgerechnet ein bis zwei Euro pro Monat -, kann schon bei einer Gruppe von zehn Personen ein beachtliches Darlehenspotenzial zustande kommen. Wenn eine Gruppe funktioniert, dann erwirtschaftet sie zum Ende des Jahres einen Gewinn von im Schnitt 35 Prozent, der dann verteilt wird. 15 bis 20 Prozent der Teilnehmer schaffen es sogar, so weit zu kommen, dass sie Kredite bei Banken oder anderen lokalen Finanzierungsinstitutionen bekommen.
Bildung ist die Voraussetzung, anders als bei Mikrokrediten?
Eine gewisse Bildung ist Voraussetzung. Es braucht eine Buchhaltung, Zinsen müssen ausgerechnet werden und die Menschen müssen in der Lage sein, den wöchentlichen, manchmal auch zweiwöchentlichen Sitzungen zu folgen. Das erfordert ein gewisses Verständnis des Systems. Dazu braucht es eine Anleitung, ein Training. Die Kosten der Etablierung solcher Gruppen sind sehr gering; sie belaufen sich auf acht bis zwölf Dollar pro Kopf. Das ist ein einmaliges Investment; wenn die Gruppen trainiert worden sind, funktioniert das von selbst.
Ganz glatt geht das vermutlich nicht immer. Gibt es Probleme?
Und das größte Problem wurzelt in der alten Tradition. Die Menschen dort haben noch ein sinnliches Verhältnis zum Geld. Und wenn dann die Kassette mit den drei Schlössern geöffnet und ein Betrag verteilt wird, der mehreren Jahresgehältern entspricht, dann ist das ein unglaublich fröhliches Ereignis. Dann wird ein Riesenfreudenfest veranstaltet - doch das ist leider nicht der erwünschte Nutzen für die wirtschaftliche Entwicklung.
Auch hier fließen also Gelder in den Konsum. Worin liegt der Vorteil gegenüber Mikrokrediten?
Mikrokredite sind ein reines Schuldensystem. Es werden Kredite vergeben, ohne dass vorher angespart worden ist. Und häufig werden Kredite für Geschäfte vergeben, die sich absehbar nicht tragen. Somit ist die Verschuldung vorprogrammiert. Das kann bei diesem System nicht passieren. Es ist immer überschaubar, bleibt immer im Kreis von Bekannten, Verwandten, Freunden, in der Umgebung. Die soziale Kontrolle funktioniert im solidarischen Sinne.
Es ergibt sich eine Solidarisierung?
Es ergibt sich eindeutig eine Solidarisierung - mit einem problematischen Punkt: Die Gruppen schauen natürlich schon, wen sie einbeziehen, da die Erträge später auch in der Gruppe verteilt werden. Es gibt daher einen gewissen Ausschließungseffekt gegenüber den Allerärmsten und gegenüber Marginalisierten wie mit Aids infizierten Witwen oder Kindern. Ansonsten herrscht tatsächlich Solidarität.
Zusammengefasst: Wo liegen die Vorzüge das Systems?
Sparen und Leihen ist sehr gut in drei Punkten. Erstens werden endlich Frauen - vielfach erstmals - bemächtigt, mit Geld umzugehen. Bei uns ist das selbstverständlich, aber auf dem Lande in Kenia und Tansania aufgrund traditioneller patriarchalischer Strukturen häufig eben noch nicht.
Zweitens garantiert das System ein regelmäßiges Einkaufen, wenn auch auf einem ganz bescheidenen Level. Aber die Einkommenslage wird durch diese Darlehen stabilisiert. Das bedeutet, die Kinder bekommen regelmäßig Mahlzeiten. In der Subsistenzwirtschaft leben die Menschen sprichwörtlich von der Hand in den Mund. Wenn mal Geld da ist, dann leben sie drei, vier Wochen über ihre Verhältnisse und haben dann drei, vier oder sechs Monate nichts mehr. Wenn dann Dürren hinzukommen, ist Unterernährung vorprogrammiert. Das ist heutzutage die größte Ursache für Kindersterblichkeit.
Der dritte Vorteil gegenüber Mikrokrediten ist, dass das System demokratische und solidarische Verhaltensformen stärkt und die Menschen diszipliniert, regelmäßig in der Gruppe zu sparen. Da wird eine Zukunftsperspektive eingeübt, die es sonst nicht gäbe. Sparen und Leihen entwickelt so die ersten Elemente eines zukunftsorientierten wirtschaftlichen Denkens - und irgendwann wird auch mal der Sprung zu größeren Investitionsvorhaben klappen, denke ich.
Hier liegt der entscheidende Punkt?
Ja. Der Schritt zu größeren gemeinsamen Investitionen zur Modernisierung der Landwirtschaft, beispielsweise in ein Bewässerungssystem, eine Lagerhalle, in Traktoren und so weiter sind bisher noch kaum gelungen. Es fehlt an Investitionen, an Marketing, auch an Unternehmern, um den Sprung auf wirkliche Absatzmärkte zu schaffen. Dies setzt ein höheres Maß an Bildung voraus und zusätzliches Fremdkapital.
Wie geht es weiter? Was kann aus diesem Modell werden?
Wir sollten das System in ländlichen Regionen und in den Slums in Großstädten weiter ausbauen und die Gruppen intensiver begleiten, damit sie den Sprung zu solchen größeren Investitionen schaffen. Mittlerweile gibt es Ansätze, das System auf Basis moderner Kommunikationstechnologie zu organisieren, also Sparbeiträge und Darlehensvergabe mithilfe von Mobiltelefonen abzuwickeln. Das erfordert weitere Bildung, aber auch zusätzliche Investitionen und eine Verknüpfung mit anderen sozialen Innovationen, Genossenschaften beispielsweise. Das Raiffeisen-Genossenschaftsmodell könnte dort gut funktionieren.
Zitate
"Mikrokredite sind ein reines Schuldensystem. Es werden Kredite vergeben, ohne dass vorher angespart worden ist." Günther Schmid: Erst sparen, dann leihen
"Es wird eine Zukunftsperspektive eingeübt, die es sonst nicht gäbe. Sparen und Leihen entwickelt so die ersten Elemente eines zukunftsorientierten wirtschaftlichen Denkens." Günther Schmid: Erst sparen, dann leihen
changeX 29.10.2013. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zum Buch
Günther Schmid, Barbara Schmid-Heidenhain: Mikrofinanzierung als Entwicklungshilfe. Sparen & Leihen als Alternative zu Mikrokrediten? Erfahrungen aus Ostafrika. Edition Pamoja, Berlin 2013, 84 Seiten, 9.90 Euro, ISBN 978-3-00-040375-0
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Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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