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Es brodelt
Management, wie wir es kennen, ist Management X. Es folgt dem alten Managementparadigma: anweisen, kontrollieren, motivieren. Doch zeichnen sich bereits die Konturen eines neuen Paradigmas ab, einer menschlichen Variante von Management. "Management Y" nennen das vier Autoren. Ihr Buch gewährt einen inspirierenden Einblick in das brodelnde Laboratorium der Organisationsentwicklung.
Wie entstehen eigentlich Paradigmen? Und wie geht es vor sich, wenn ein neues Paradigma das etablierte ablöst? Thomas S. Kuhn beschreibt das in seinem Werk Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962) in etwa so: Das bestehende Paradigma hat Großartiges geleistet. Es hat die Weltsicht für eine Ära geprägt. Es hat sich als "normale Wissenschaft" etabliert, die kumulativ das Wissen vermehrt, indem sie fortlaufend Rätsel löst. Doch nach und nach tun sich Anomalien auf, die innerhalb des Paradigmas nicht erklärt werden können. Entdeckungen, Erfindungen und neue Theorien kommen auf, bieten bessere Erklärungen für zunächst noch eng umgrenzte Phänomene. Irgendwann erscheint dann eine neue, revolutionäre Idee, die auf einen Schlag die Perspektive dreht. Die Erde ist rund, keine Scheibe. Sie ist nicht der Mittelpunkt des Universums, sondern dreht sich um die Sonne. Zeit ist nicht absolut, sondern relativ.
Management ist eine großartige Errungenschaft. Es hat die Unternehmensführung professionalisiert und auf wissenschaftliche Grundlagen gestellt. Es war Auslöser und Treiber einer gewaltigen Produktivitätsrevolution, die Wohlstand der breiten Masse der Menschen zugänglich gemacht hat. Es hat die Effizienz der Prozesse in immer weitere Höhen getrieben. Es hat sich immer wieder als anpassungsfähig erwiesen und neue Erkenntnisse aufgenommen und integriert. Doch seit geraumer Zeit wachsen die Schwierigkeiten.
Denn die Märkte ändern sich, die Produktionsprozesse ändern sich, die Arbeit ändert sich, und nicht zuletzt: Die Menschen ändern sich. Und gerade auf der menschlichen Seite der Wirtschaft kumulieren unerklärbare Schwierigkeiten. Schwierigkeiten, auf die sich im Rahmen des Managementparadigmas keine Antworten finden lassen: Demotivation, innere Kündigung, Burnout.
Wie das managen? Wie Arbeit arbeitsteilig organisieren, bei der es immer mehr auf Zusammenhänge, auf Zusammenarbeit ankommt? Arbeit, die sich immer weniger anweisen lässt, weil die Expertise in den Köpfen von Arbeitern liegt, deren Produktionsmittel ihr Wissen ist? Und wie Menschen führen, die in einem freien Land aufgewachsen sind und nun auch in ihrer Arbeit mitreden und selbst entscheiden wollen?
Vom X und vom Y
Um diese Fragen sind viele alternative Konzepte, Ideen und Methoden entstanden, die jenseits des klassischen Managements nach neuen Lösungen suchen. Ein neues Paradigma bildet sich aus. Doch welche Bezeichnung soll es tragen? Eine Idee hat dabei eine prägende Kraft entfaltet, weil sie an den Kern rührt, an das Menschenbild. Klassisches Management ist die Idee, dass Arbeit angewiesen werden muss, weil die Arbeitskräfte schlecht ausgebildet und im Grunde nicht willens sind, sich anzustrengen - wie das "Arbeitermaterial", mit dem Taylor es zu tun hatte. Das dahinter liegende Menschenbild besagt: Menschen müssen angewiesen, angeleitet, kontrolliert und mit materiellen Anreizen motiviert werden, um sie dazu zu bewegen, sich anzustrengen.
Doch psychologische Studien nährten Zweifel an dieser Grundannahme. Sie legten nahe, dass das, was man für eine Ausnahmeerscheinung bei Künstlern und Genies gehalten hatte, jedem Menschen innewohnt: intrinsische Motivation. Motivation, die aus dem Menschen selbst kommt, die sich aus seinen Ressourcen und Talenten speist. Demnach müssen Menschen nicht von außen angetrieben werden, sondern sind - wenn die Rahmenbedingungen stimmen - von sich aus bereit, Leistung zu erbringen.
Douglas McGregor war es, der diese beiden Ideen zum ersten Mal einander gegenübergestellt hat. Und er tat es bereits in paradigmatischer Form: Die alte Motivationstheorie nannte er "Theorie X", die neue "Theorie Y". Viel spricht dafür, dass McGregor in seinem Werk The Human Side of Enterprise 1960 bereits den Paradigmenwechsel auf den Punkt gebracht hat. Heute ist es bloß eine zufällige Koinzidenz, eine ironische Zuspitzung, dass die Generationenzählweise auch gerade beim "Y" angekommen ist und eine junge Generation sich gegen das alte Managementmodell auflehnt. Theorie X steht gegen Theorie Y. Management, wie wir es kennen, ist Management X. Management Y heißt dieser Logik folgend das neue Buch von Ulf Brandes, Pascal Gemmer, Holger Koschek und Lydia Schültken. Es beschreibt Ansätze eines neuen Managements jenseits des X-Ansatzes, eines Managements mit mehr Menschlichkeit. Aber es stellt die Frage nicht, ob es vielleicht etwas ganz anderes braucht als Management.
Auf Augenhöhe
Das Buch bietet im ersten Teil eine Zusammenschau der unterschiedlichen Reformansätze und Strömungen aus vier unterschiedlichen Blickwinkeln. Die ersten beiden Perspektiven betreffen die Art und Weise, wie wir Produkte entwickeln und Projekte erfolgreich umsetzen; die dritte und vierte Perspektive behandeln dann das Thema vitale Organisation und eine begeisternde Arbeitskultur.
"Kunden wirklich verstehen" ist die erste Perspektive: Hier geht es um eine Veränderung der Art und Weise, wie wir Produkte herstellen. Stichwort Design Thinking: "Kundennahes, iteratives und lösungsoffenes Vorgehen macht das Finden eines gelungenen Produktes wahrscheinlicher."
"Liefern, was gebraucht wird", die zweite Perspektive, betrifft die Etablierung agiler Methoden wie Scrum oder Kanban in Unternehmen.
"Organisationen gemeinsam beleben" zielt auf "den Teppich der Unternehmenskultur", der die Grundlage für alles Handeln im Unternehmen bildet. Die Autoren behandeln hier die sechs Kernpunkte einer vitalen Organisation: Klarheit, Menschenbild, Potenzialentfaltung, Unterschiede wertschätzen, Mut zu heiklen Diskussionen, Feedback.
"Menschen ehrlich begeistern", die vierte Perspektive, betrifft sowohl Kundenbeziehung, Recruiting wie Mitarbeiterbindung. Hier geht es essenziell um Teilhabe - oder anders gesagt um die "Größe des Wir-Begriffs", den das Unternehmen besitzt. "Nur wer sich in das ,Wir‘ des Unternehmens ernsthaft einbezogen fühlt, wird begeistert mitwirken."
Geht es bei den ersten beiden Blickwinkeln mehr um Methoden, Regeln und Tools, thematisieren die letzten beiden Perspektiven kurz gesagt eine "Arbeitskultur, in der Menschen aus echter Begeisterung ihr Bestes geben". Klar benennen die Autoren auch die Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen neuen Strömungen und Ansätze: "Augenhöhe statt Unterordnung, Gemeinsinn statt Silodenken, gemeinsam entwickeln statt anordnen".
Einblick ins brodelnde Laboratorium der Organisationsentwicklung
Das durchgehend vierfarbig gedruckte Buch ist mit zahlreichen Fotos, Textkästen, Schaubildern und Illustrationen ansprechend gestaltet. Es ist in erster Linie als Arbeitsbuch zu lesen, das neue Perspektiven auf Organisationen anbietet und neue Strömungen der neueren (im weitesten Sinne) Managemententwicklung zusammenfasst. Dieser Laborcharakter wird im zweiten Teil noch verstärkt, wo die Autoren 24 "leicht übertragbare Helfer für den Wandel zur zukunftsfähigen und attraktiven Organisation" beschreiben. Das geschieht in ganz unterschiedlicher Form, mal als prägnante Kurzdarstellung, mal als Gesprächsprotokoll, mal als Fremdbeitrag anderer Autoren aus der Beraterszene. Das ist zunächst ein wenig verwirrend, unterstreicht auf den zweiten Blick aber den offenen Charakter des angebotenen Instrumentariums, dessen Bandbreite von Klassikern wie Open Space bis hin zu neueren Ansätzen reicht, wie etwa Pairing (die Doppelbesetzung von Positionen, die "das Ende des Einzelexpertentums" einläuten könnte).
Es geht eben nicht um die Essenz eines entwickelten und ausdifferenzierten Paradigmas - wie etwa beim 5-Minuten-Manager, der eine Zusammenschau von Management X liefert. Management Y hingegen ist in Entwicklung, in Bewegung. Viel verändert sich, und in einem Jahr wird manches schon wieder anders sein. In dieses brodelnde Laboratorium der Organisationsentwicklung bietet Management Y einen inspirierenden Einblick. Es erweitert den Blick auf Organisationen, verengt ihn zugleich aber auch. Denn Management Y ist immer noch Management. Eine neue Art, eine menschliche Variante von Management, sicher. Aber das setzt voraus, dass der Shift innerhalb der Disziplin gelingt und Management die "Inkompetenzvermutung" (Michel Serres), die so fundamental für die ganze Managemententwicklung war, preisgibt.
Management? Oder ganz etwas Neues?
Oder entsteht vielleicht doch etwas ganz Neues? Etwas grundlegend anderes? Insofern als in der Interaktion zwischen Menschen längst nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Ein Begriff scheint am Horizont auf, der den Antagonismus zwischen X und Y hinter sich lässt und neue Räume jenseits der definitionsgemäß interessengeleiteten Kooperation erschließt: Kollaboration. So wie es aussieht, könnte Management Y noch längst nicht das Ende sein.
Zitate
"Management Y gewährt einen inspirierenden Einblick in das brodelnde Laboratorium der Organisationsentwicklung." Rezension von Management Y
"Unter dem Strich sind es immer wieder die Elemente Vertrauen, Augenhöhe, Wertschätzung, Loslassen und Selbstorganisation, die gegenüber den klassischen, weit mehr auf Kontrolle und hierarchischen Vorgaben basierenden Dialogformaten einen erheblichen Unterschied machen, sowohl was die Qualität als auch was die Geschwindigkeit der Ergebnisfindung anbelangt." Ulf Brandes, Pascal Gemmer, Holger Koschek, Lydia Schültken: Management Y
"Nur wer sich in das ,Wir‘ des Unternehmens ernsthaft einbezogen fühlt, wird begeistert mitwirken." Ulf Brandes, Pascal Gemmer, Holger Koschek, Lydia Schültken: Management Y
changeX 02.10.2014. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zum Buch
Ulf Brandes, Pascal Gemmer, Holger Koschek, Lydia Schültken: Management Y. Agile, Scrum, Design Thinking & Co.: So gelingt der Wandel zur attraktiven und zukunftsfähigen Organisation. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2014, 240 Seiten, 34.99 Euro, ISBN 978-3-593501581
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Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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