Wachstum in die Vielfalt
Unsere Welt ist komplexer geworden. Lässt sie sich ohne die Erkenntnisse der Komplexitätsforschung verstehen, ja erklären? Wohl kaum. Es braucht neue Sichtweisen, neue Paradigmen, neue Narrative. Ein Potsdamer Forscher schlägt nun ein neues Paradigma jenseits des Wachstumsdenkens vor, das Prinzip der Faltung. Faltung heißt: ein Wachstum in die Vielfalt, in die Diversität, anstelle eines unbegrenzten Wachstums in eine Richtung. Ein neuer Ansatz, wie die Transformation der Ökonomie und die Bewältigung der Klimakrise zusammengedacht werden können.
Ein Weniger als Strategie gegen den Klimawandel funktioniert nicht. Das ist die ernüchternde Aussage dieses Buches. Sie gilt in zweierlei Hinsicht, und Anders Levermann, Leiter der Komplexitätsforschung am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, wendet sich damit gegen zwei verbreitete Sichtweisen: erstens die Einschätzung, eine bloße Reduzierung der Kohlendioxidemissionen reiche aus, um die Erderhitzung zu stoppen. Und zweitens die Haltung, die viele Debatten über die Umweltthematik dominiere, die aber, so der Autor, falsch sei: Der Gedanke des Weniger, der Einschränkung unseres bisherigen Lebensstils, des Verzichts.
Beides hängt natürlich zusammen, und warum die Emissionsminderung als Maßnahme und die Einschränkung als Strategie nicht funktionieren, hat seinen Grund in einer megaharten, einer physikalischen Grenze: Ganz egal, wie stark wir reduzieren, sinkt die Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre nur langsam ab - und noch langsamer die Temperatur. Anders gesagt: Die Erwärmung nimmt zu, solange wir weiter fossile Brennstoffe verbrennen. Die Konsequenz ist, "dass wir vollständig aufhören müssen, Öl, Gas und Kohle zu verbrennen, wenn wir die Temperatur unseres Planeten stabilisieren wollen". Wir müssten weltweit auf null Emissionen kommen, so Levermann: "Die harte Grenze, die uns das Klimasystem vorschreibt, ist die Null." Denn nur dann höre die Temperatur irgendwann auf zu steigen. Was für den Klimawandel gilt, proklamiert Levermann für den Umgang mit Fragen von Umweltzerstörung generell: Statt über Verzichtsideologien zu streiten, müssten wir innovativ nach vorne denken. Das Ziel: "eine Gesellschaft, die auf dem Fundament der erneuerbaren Energien Wachstum und Wohlstand anders definiert und generiert".
Ein neues Paradigma, ein neues Narrativ
Um diesen Paradigmenwechsel weg vom unbeschränkten Wachstum zu erreichen, schlägt Levermann ein neues Paradigma vor, ein neues Narrativ, das seinem Forschungsgebiet, der Komplexitäts- und Chaostheorie entstammt: die Faltung. Faltung entsteht "immer dort, wo ein sich aktiv entwickelndes System mit Grenzen konfrontiert wird". Jedes Mal, wenn ein aktives Element in einem solchen System an eine Grenze stößt, vollzieht es eine Richtungsänderung - Levermann illustriert das mit einem durch den Raum fliegenden Tischtennisball, der immer wieder auf Hindernisse trifft, abprallt und jedes Mal seine Flugbahn ändert. Und mit jeder Richtungsänderung des Akteurs beginnt eine Suchbewegung. Das wiederholt sich bei jedem Grenzkontakt, und die Bewegungskurve faltet sich gewissermaßen in den Raum. Daher Faltung. Jede Richtungsänderung bedeutet Neuland, und je mehr Richtungswechsel die Bewegung vornimmt, umso mehr Raum kann sie sich erobern. Auf Systemebene heißt das: "Anstelle eines unbegrenzten Wachstums in eine Richtung entsteht so ein Wachstum in die Vielfalt, in die Diversität." Entscheidend dabei: Dieser Effekt entsteht nicht durch Steuerung, nicht durch Management, sondern entwickelt sich von selbst. Selbstorganisiert, angestoßen allein durch das Setzen unverrückbarer Grenzen. Denn anders als ein tumber Tischtennisball kennt ein Akteur im Wirtschaftssystem die eigene Geschichte. Er lernt.
Das schlägt Levermann als das neue Paradigma vor: eines, das unmittelbar anschließt an den Stand hochentwickelter Systemforschung. Hierin liegt die innovative Kraft des Narrativs der Faltung. Das Prinzip, das der Autor mit den Mitteln und in den Worten der Chaos- und Komplexitätstheorie beschreibt, hingegen ist alt. Die Idee, dass Individuen und Organisationen in einem nicht durch zentrale Planung regulierten System Neues suchen und Innovationen schaffen, ist die Kernidee einer innovationsbasierten Form von Wirtschaft. Das bedeutet freilich nicht, dass eine in diesem Sinne "freie" Wirtschaft generell unreguliert bleiben müsse, wie Vertreter des Wirtschaftsliberalismus meinen. So stellt Levermann neben dem Ende der Verbrennung fossiler Energieträger und dem Ende des Rohstoffabbaus drei weitere Grenzen zur Diskussion: die Begrenzung der Unternehmensgröße, die Begrenzung des Erbes und die Begrenzung des Einkommensunterschieds.
Wenige Grenzen, simple Regeln
Spannend ist auch, dass sich vor dem Hintergrund der Komplexitätsforschung genauer bestimmen lässt, wie Grenzen und Regeln beschaffen sein müssen, damit das Prinzip funktioniert: Es gelte, nur sehr wenige Grenzen zu setzen, die klar und begründet sein müssen, so der Autor. Dabei "sind simple Regeln vorteilhaft, weil sie transparent in die Dynamik des Systems eingehen können". Allerdings müssen die Grenzen hart sein, so wie in der Physik der Erderwärmung. "Faltungsgrenzen müssen harte, absolut unumstößliche Grenzen sein." Wie gesagt ist das Prinzip nicht neu, auch der Gedanke der Faltung nicht. Neu ist die Kombination zu einem Narrativ, "das den Wachstumsgedanken ersetzt, der seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten unser Denken prägt". Wachstum innerhalb von Grenzen, das ist es, was die Faltung im Sinne der Chaostheorie ermöglicht: "Ein Wachstum in die Vielfalt. Qualitativ statt quantitativ." Oder anders gesagt: "eine Utopie der Fülle statt des Verzichts".
Zitate
"Die harte Grenze, die uns das Klimasystem vorschreibt, ist die Null." Anders Levermann: Die Faltung der Welt
"Wir müssen vollständig aufhören, fossilen Kohlenstoff zu verbrennen." Anders Levermann: Die Faltung der Welt
"Die Faltungsgrenze verhindert Freiheit nicht, sondern erhöht den Anreiz, Neues zu erschaffen." Anders Levermann: Die Faltung der Welt
"Anstelle eines unbegrenzten Wachstums in eine Richtung entsteht ein Wachstum in die Vielfalt, in die Diversität." Anders Levermann: Die Faltung der Welt
"Wir brauchen die kreative Freiheit der Wirtschaft." Anders Levermann: Die Faltung der Welt Anders Levermann: Die Faltung der Welt
"Das ist … der Weg der Faltung: Basierend auf der gesellschaftlichen Einsicht der Notwendigkeit wird eine Grenze festgelegt, die nicht überschritten werden darf. Gleichzeitig lässt man der Gesellschaft und der Wirtschaft die Möglichkeit, sich im Rahmen dieser Grenze frei zu bewegen. Dann beginnt eine große Zahl von Akteuren, nach neuen Wegen zu suchen, sie werden kreativ und innovativ. Und das ist genau das, was wir bei der Bewältigung unserer zukünftigen Probleme brauchen." Anders Levermann: Die Faltung der Welt
"Faltungsgrenzen müssen harte, absolut unumstößliche Grenzen sein." Anders Levermann: Die Faltung der Welt
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Zum Buch
Anders Levermann: Die Faltung der Welt. Wie die Wissenschaft helfen kann, dem Wachstumsdilemma und der Klimakrise zu entkommen. Ullstein Verlag, Berlin 2023, 272 Seiten, 23.99 Euro (D), ISBN 978-3-550202124
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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