Wohnen auf kleinem Raum
"Mikro", das bedeutet klein, kurz, fein, auch gering. "Mikro" findet sich in zahlreichen Begriffen, von der Mikroanalyse bis zum Mikrozensus. Im Kontext von Innovation und Transformation steht "mikro" für kleinteilige, angepasste Instrumente, Methoden und Lösungen. Darum geht es in unserer Serie. Dieses Mal: Mikroappartements.
Mikroappartements haben sich zu einem Trend auf dem Immobiliensektor entwickelt: eine kleinteilige Wohnform meist in urbaner Lage, die aus ein bis zwei Räumen besteht und sich durch eine funktionelle Raumnutzung auszeichnet. "Microliving" ist der Wohntrend dahinter: Wohnen auf kleinem Raum. Das Gottlieb Duttweiler Institute in Rüschlikon/Zürich hat sich in einer Studie mit diesem neuen Wohntrend beschäftigt. Detlef Gürtler, Mitautor der Studie, gibt im Kurzinterview Auskunft über Mikroappartements.
Detlef Gürtler, Journalist, Redakteur und Buchautor, ist Senior Researcher am GDI. Bis 2016 war er Chefredakteur des vom GDI herausgegebenen Magazins GDI Impuls.
Was versteht man unter einem Mikroappartement?
Bei Mikroappartements ist das Wohnen auf ein Mindestmaß an Funktionen und Größe reduziert. In der Regel gibt es staatliche Vorgaben. So müssen in der Schweiz Mikroappartements beispielsweise 30 Quadratmeter groß sein. An der Ostküste der USA sind es 40, an der Westküste weniger als 30 Quadratmeter. In unseren Breiten gehört eine Heizung dazu, in Brasilien kann man hingegen keine Wohnung ohne Aircondition verkaufen oder vermieten. Die Frage, was man unter Mikro versteht, ist also kultur- und kontextspezifisch.
Die Hauptfunktionen des Wohnens - Essen, Schlafen, Hygiene - sind bei einem Mikroappartement inkludiert?
Das würde ich sagen, sonst ist man im Elendsquartier. Ein Mikroappartement braucht ein Bad oder eine Dusche, ein Klo, irgendeine Form von Küche, ein Bett, und es braucht eine Art Abgeschlossenheit. Man muss die Tür nach draußen zumachen können. Das steckt im Wort Appartement drin - apart, einzeln, gesondert. Alle weiteren Funktionen - Arbeiten, Lernen, Freunde treffen - sind möglich, aber nicht notwendig.
Wofür könnten Mikroappartements eine Lösung sein und für wen?
Anbieter von Mikroappartements gehen davon aus, dass niemand freiwillig sein Leben lang in so einer kleinen Wohnung wohnt. Das Angebot konzentriert sich auf Studenten, die neu in der Stadt sind und nicht so viel Hausstand besitzen, auf die mobilen Arbeitskräfte der digitalen Ära oder auf frisch Getrennte.
Und was ist der Trend dahinter? Individualisierung? Singularisierung?
Der wichtigste Trend dabei ist Mobilität. Menschen sind mobil, sie gehen für bestimmte Abschnitte ihres Lebens in andere Städte - zum Lernen, zum Arbeiten. Hinzu kommen Individualisierung - alles wird auf einen zugeschnitten - und Sozialisierung: Man bewegt sich in Netzwerken. Mikroappartements können beides ermöglichen. Sie bieten relativ kostengünstig einen individuellen Lebensraum. Und weil man dort nur kochen, schlafen, duschen kann, geht man für alles andere vor die Tür. Trifft seine Freunde im Café, wäscht seine Wäsche im Waschsalon. Das wird auch nicht als Zeichen der Armut gesehen, sondern eher als Zeichen von Reichtum. Die Akzeptanz hat sich verändert. Dinge, die man früher gerne in der eigenen Wohnung gemacht hat, werden heute ins Außen verlagert.
Wo liegt der Unterschied zu Tiny Houses - ebenfalls ein Mikrowohntrend?
Mikroappartements sind zum Wohnen da. Tiny Houses zum Träumen. Es geht um Zurückgezogenheit, Rückbesinnung auf den Ursprung, sich Beschränken auf das Wesentliche, also eine Kombination aus Rückzug und Downsizing. Beides ist etwas, was die wenigsten Leute wirklich können und was die wenigsten Leute wirklich wollen, aber wovon sehr viele träumen. Deswegen ist das für mich eine Art Eskapismus. Zum Glück. Denn eine Weltbevölkerung, die komplett in Tiny Houses wohnen würde, wäre aufgrund des Flächenverbrauchs eine Katastrophe. Mikroappartements sind deutlich ökologischer und verträglicher.
Zum Schluss das Wichtigste ganz kurz: Ökologische Verträglichkeit ist der zentrale Punkt?
Mikroappartements sind die ökologischste Form des Wohnens, weil viele Menschen auf relativ kompaktem Raum zusammenleben. Ein Mikroappartement braucht weniger Heizung pro Person, weniger Wasser, weniger Baumaterial, weniger Fläche. Mikroappartements sind damit deutlich ressourcenschonender als jedes Einfamilienhaus oder Tiny House.
Der Text ist ein Auszug aus einem ausführlichen Interview zum Thema Microliving, das in Kürze erscheint.
Serienintro: "Die Kraft des mikro" war der Titel unseres Werkstattgesprächs über soziale Mikroinnovation, das vor gut zwei Jahren erschienen ist. Die Intention damals: Zu prüfen, ob der Begriff "soziale Mikroinnovation" dazu taugt, ein zu wenig beachtetes gesellschaftliches Phänomen zu beschreiben: die Kraft kleinteiliger Veränderungen. Seither ist uns das "Mikro" immer wieder begegnet, in ganz unterschiedlicher Gestalt. Sei es in Form quasi minimalinvasiver Interventionen, sei es in Form der Reduktion auf ein Minimum von etwas. Das war der Anstoß, zu schauen, welche Ansätze innovativer, kleinteiliger, angepasster Instrumente, Methoden und Lösungen in ganz unterschiedlichen Themenfeldern zu finden sind - egal, ob unter der Bezeichnung "mini" oder "mikro". Die Herangehensweise: fragen. Und offen sein für die Ideen und Gedanken hinter dem Begriff. Eine Suchbewegung.
Zitate
"Mikroappartements sind die ökologischste Form des Wohnens, weil viele Menschen auf relativ kompaktem Raum zusammenleben." Detlef Gürtler: Wohnen auf kleinem Raum
"Ein Mikroappartement braucht weniger Heizung pro Person, weniger Wasser, weniger Baumaterial, weniger Fläche. Mikroappartements sind damit deutlich ressourcenschonender als jedes Einfamilienhaus oder Tiny House." Detlef Gürtler: Wohnen auf kleinem Raum
changeX 16.04.2019. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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© Das Foto hat uns der Interviewpartner zur Verfügung gestellt. Foto: Thomas Entzeroth
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Studie Microliving. Urbanes Wohnen im 21. Jahrhundertzur Studie
Zum Buch
Stefan Breit, Detlef Gürtler: Microliving. Urbanes Wohnen im 21. Jahrhundert. Studie des GDI Gottlieb Duttweiler Institute, Rüschlikon/Zürich 2018
Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.
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