Crossover Society
Zukunftsgestaltung braucht Werte - sonst verfehlt die Entwicklung ihr Ziel.
Planlos treibt die Informationsgesellschaft dahin. Der Mensch, der eigentlich in ihrem Mittelpunkt stehen sollte, bleibt auf der Strecke und hadert ohnehin mit der eigenen Entwicklung. Was wir brauchen, ist eine klare Vision einer wünschenswerten Welt.
In so manchem Szenario ist die Informationsgesellschaft eine hoch technisierte und reibungslos funktionierende Welt, in der mobile, gebildete und wohlsituierte Menschen dank intelligenter Vernetzung entspannt das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden können. Diese Informationsgesellschaft macht wirklich Spaß: "information at your fingertips" in der "always-on world", kurz: moderner "digital lifestyle". Unsere technischen Tools zur Informationsbeschaffung und -verarbeitung werden immer smarter, breitbandiger, allgegenwärtiger. Die gelegentliche Berührung des digitalen Universums mit der physischen, der realen, der analogen Alltagswelt offenbart jedoch Zustände, die immer noch vorsintflutlich und regelrecht fortschrittsresistent anmuten. Vernetzte Info-Systeme, intelligente Verkehrstelematik, reibungslose Abläufe in einer hoch technisierten Lebenswelt? Wer daran glaubt, ist lange nicht mehr Bahn gefahren. Schon kleine Störereignisse bringen das komplexe System durcheinander; wer im Zug sitzt (oder verzweifelt darauf wartet, dass der Zug kommt), "erfährt" buchstäblich die tiefe Kluft zwischen den vollmundigen Prophezeiungen von Politik und Industrie und der teilweise grotesken Wirklichkeit der Informationsgesellschaft, die auf Bahnsteigen und in Zugabteilen meist eine Desinformationsgesellschaft ist.
Mythos Informationsgesellschaft.
Ungeachtet der oft schlechten
Erfahrungen im Umgang mit den Interfaces und
informationstechnisch vernetzten Systemen werden die Mythen der
Informationsgesellschaft wie ein Mantra wiederholt: In der
Informationsgesellschaft gibt es einen freien Austausch über die
globale Datenautobahn, der einen ungehinderten Zugang zu
Information und Wissen ermöglicht und so Bildung und Wohlstand
für alle schafft. Dabei wird sogar die Umwelt entlastet: dank des
papierlosen Büros und einer Senkung des Verkehrsaufkommens durch
Telearbeit und Videokonferenzen. Immaterielle Produkte (die per
se keine Schadstoffe hinterlassen) bilden den Kern der
wirtschaftlichen Wertschöpfung.
So ist es dann leider doch nicht. Zugegeben, die
Informationsgesellschaft hat das Entstehen einer wissensbasierten
Ökonomie gefördert. Mit neuen elektronischen Interaktions- und
Partizipationsmöglichkeiten, durch die prinzipiell jeder
Empfänger auch zum Sender werden kann, hat sie die Presse- und
Meinungsfreiheit und damit zentrale Bürgerrechte weiter gestärkt.
Doch die Produktivitätszuwächse der Informationsökonomie kommen
nur einer relativ kleinen Wissenselite zugute, neue Monopole
entstehen. Auch führt der Einsatz von Informations- und
Kommunikationstechnologien nicht zwangsläufig zu Verbesserungen
der Lebensqualität. Viele Menschen erleben die Segnungen des
Info-Zeitalters in Form von Informationsüberflutung,
Überforderung und Frustration, oftmals bedingt durch die
Überkompliziertheit der Geräte und Systeme. Automatisierung
schafft dabei nicht nur ein Mehr an Komfort, sondern führt auch
zu einer gewissen Entmündigung der Technik-Benutzer. In unserer
informationstechnisch durchdrungenen "Autofokusgesellschaft" wird
die Option, etwas manuell zu tun, zum Luxus.
Die Informationsgesellschaft ist auch kein Öko-Paradies,
sondern bringt neue Umweltbelastungen hervor. Der Papierverbrauch
schwillt unvermindert an. Die Verkehrsbelastung nimmt weiter
dramatisch zu, insbesondere natürlich im Bereich des
Warenverkehrs. E-Commerce und vernetzte Produktionsprozesse
bescheren dem Logistiksektor einen Boom und werden bis 2010 zu
einer weiteren Verdopplung des Lastverkehrs auf den Straßen
führen. Über die andauernde Beleidigung des Menschen durch den
Stau kann auch der Internetanschluss im Auto nicht wirklich
hinwegtrösten.
Kurz: Die abgebremste Karriere der Informationsgesellschaft
zeigt eindrücklich die Janusköpfigkeit, die allen "großen
Zukunftsprojekten" zu eigen ist.
So unterschiedlich die Wirkungen der
Informationsgesellschaft, so vielfältig sind auch die Strategien,
mit ihrer Komplexität umzugehen. Verweigern und offline bleiben
sind für einen anhaltend hohen Prozentsatz der Bevölkerung reale
Optionen. Für die anderen sind Zappen und Surfen derzeit die
erfolgreichsten Bewältigungsversuche. Die unterschiedlichen
Strategien von Aneignung, Nutzung und Bewältigung entwickeln sich
innerhalb zunehmend segmentierter Teilöffentlichkeiten oder
Communities, die sich teils überlagern, teils nebeneinander her
existieren (was Jürgen Habermas, Oskar Negt und Alexander Kluge
im Übrigen schon lange vor Einführung des kommerziellen
Fernsehens und Internets voraussahen). Den großen Mega-Plan für
die Gestaltung der Informationsgesellschaft hat es - abgesehen
von einigen wenigen Versuchen wie 1993 Al Gores Initiative für
eine "National Information Infrastructure" für die USA - indes
nie gegeben. Die Bibel der Informationsgesellschaft ist nicht
geschrieben worden.
Wissen statt Information: Der Mensch kommt wieder ins Spiel.
Die zwiespältigen Erfahrungen mit
der Informationsgesellschaft und ihre ungelösten Probleme im
Gepäck, kündet die viel beschworene "Wissensgesellschaft" von
neuen Hoffnungen und Perspektiven. Schon 1975 von dem Theoretiker
der postindustriellen Gesellschaft Daniel Bell postuliert, soll
sie aus der Sackgasse der IT-Bezogenheit und der
Informationsüberlast herausführen. Die neue Qualität der
Wissensgesellschaft gegenüber der Informationsgesellschaft liegt
vor allem darin, dass in der Wissensgesellschaft der Mensch als
handelndes Subjekt mit all seinen Erfahrungen, Intuitionen und
Erinnerungen ins Spiel kommt. Erst die bewusste Verarbeitung,
Auswahl, Bewertung und Verknüpfung von Informationen zu etwas
Neuem, zu Ideen, Problemlösungen und Handlungen, zu Produkten und
Dienstleistungen lassen "Wissen" entstehen. Eine Kulturleistung,
die bislang - und daran haben auch die Fortschritte der
Künstlichen Intelligenz nur bedingt etwas geändert - nur der
Mensch zu vollbringen in der Lage ist.
Dieses Wissen ist an Subjekte (Individuen, Institutionen)
gebunden. Im Gegensatz zu materiellen Ressourcen verbraucht sich
Wissen durch seine Nutzung nicht, sondern vermehrt sich, indem es
mit anderen Subjekten geteilt wird. Wenn alle Mitarbeiter eines
Software-Konzerns gleichzeitig kündigen würden, so bliebe von
diesem nichts übrig als einige wertlose Schreibtische, Computer
und Bürogebäude.
Aber auch die an die Ressource Mensch gebundene
Wissensgesellschaft leidet unter Überangebot an Informationen,
der Fülle an Stoff, aus dem Wissen entstehen könnte. Die Folge:
"information fatigue" angesichts einer ständigen
Informationsüberlastung. Was also tun? Schneller lesen, quer
lesen ("browsing"), Informationen parallel aufnehmen
("multitasking"), Informationen komprimieren, filtern - oder
einfach noch länger arbeiten, weil die Zeit nicht reicht? All
diese Strategien der Informationsverarbeitung führen
erfahrungsgemäß schnell an unsere physische Grenzen. Und
schließlich geht es in der Wissensgesellschaft eben nicht darum,
immer größere Mengen an Informationen in immer kürzerer Zeit
aufzunehmen, sondern darum, das Aufgenommene auch zu verstehen.
Informationen müssen stets durch den Flaschenhals individueller
Aufmerksamkeit. Und diese lässt sich (noch) nicht endlos
steigern.
Die Verkünder der Wissensgesellschaft fordern daher, den
Menschen zukünftig genau in denjenigen Fähigkeiten zu stärken,
die ihm einen souveränen Umgang mit der informationell bedingten
Unübersichtlichkeit gestatten. Hinzu kommt die Stärkung ethischer
Entscheidungskompetenz: Im kommenden Zeitalter von Bio-, Gen- und
Nanotechnologie stellen sich normative Fragen, etwa die nach dem
richtigen Umgang mit menschlichem Leben, verschärft - und die
lassen sich nun einmal nicht allein mit Faktenwissen beantworten.
Drittens schließlich die Stärkung kulturellen Wissens:
Weltumspannende Kommunikationsnetze und eine globalisierte
Ökonomie führen, auch wenn uns die kommerziellen
Oberflächenphänomene einer globalen Markenkultur dies suggerieren
mögen, nun einmal nicht automatisch zu einer globalen Kultur. Im
Gegenteil: Menschen, Regionen und Religionsgemeinschaften ringen
heute mehr denn je um ihre kulturelle Identität. Das verlangt von
jedem Einzelnen ein breites kulturelles Wissen - auf Gebieten wie
Geschichte, Religion, Kunst und Literatur, Philosophie und Moral,
Wissenschaft und Technik.
Der Mensch muss also wieder in den Mittelpunkt rücken, das
haben nicht nur die Apologeten der Wissensgesellschaft inzwischen
erkannt, sondern auch die Erfinder anderer X-Gesellschaften. Der
Empiriker der Spaß-, Erlebnis- und Freizeitgesellschaft Horst W.
Opaschowski zitiert eine repräsentative Umfrage aus dem Jahr 2001
(Freizeit-Monitor): Was heute und in Zukunft wichtig sei und
sowohl dem Individuum als auch der Gesellschaft Stabilität
verleihe, seien vor allem drei Werte: Hilfsbereitschaft (sagen 57
Prozent der über 14-Jährigen), menschliche Wärme (54 Prozent) und
soziale Gerechtigkeit (51 Prozent).
Nach den Enttäuschungen der Informationsgesellschaft mutet
die Wissensgesellschaft also irgendwie sympathisch an: Sie bringt
den Menschen in Stellung gegen den eher technologisch dominierten
Ansatz der Informationsgesellschaft.
Wir müssen uns aber eingestehen, dass ihre Gestaltungskraft
(und damit die Halbwertszeit ihrer öffentlichen Wahrnehmung) eher
als gering einzuschätzen ist: Ihre Vertreter fordern zwar eine
neue Werteorientierung, bieten aber keine Bezugspunkte, wie und
woraus sich diese konstituieren könnte.
Außerdem taugt die von ihnen verkündete Wissensgesellschaft
wegen ihres teilweise naiven Rückgriffs auf die Bedeutung des
individuellen Wissens nur bedingt als Bezugsrahmen, um die neuen
Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern: Schließlich
droht nicht nur die Gesellschaft immer mehr aus den Fugen zu
geraten, auch unsere Vorstellung vom Menschen selbst wird massiv
in Frage gestellt.
Was aber bleibt vom Menschen?
Vor knapp zwei Jahren entbrannte
die alte Diskussion um den Einfluss neuer Technologien auf die
menschliche Evolution erneut. Auslöser war Bill Joys Aufsatz "Why
the future doesn't need us" im amerikanischen Kult-Magazin
Wired. Aufbauend auf den Thesen des Robotik-Philosophen
Hans Moravec malte Joy ein Horrorbild: Der Mensch sei durch
Nano-, Gen- und Robotiktechnologien und unter den Bedingungen
weiterhin exponentiell wachsender Rechnerleistungen auf dem
besten Wege, sich selbst abzuschaffen. Oder sich zumindest stark
zu verändern. Warum in Zukunft überhaupt noch die Mühsal des
Lernens auf sich nehmen? Unser Gehirn, mit Hilfe
nichtbiologischer Intelligenz aufgerüstet, wäre dann in der Lage,
sich Wissen direkt aus dem Computer ins Gehirn herunterzuladen.
Und wenn der Mensch an seine natürlich-biologischen Grenzen
gerät, taub, blind, krank oder einfach nur alt wird - kein
Problem: Teile unseres Gehirns oder Nervensystems werden durch
Elektronik-Implantate ersetzt, Krebszellen durch Nanobots
zerstört und neue Gewebe oder Organe aus Stammzellen einfach
nachgezüchtet. Der Mensch als Cyborg, als kybernetischer
Organismus, in dem sich die Grenzen zwischen natürlichen und
künstlichen Anteilen verwischen.
Doch gemach. Ganz so nah ist diese Zukunft nun auch wieder
nicht. Und weder Intelligenz noch Lernprozesse biologischer
Systeme sind bislang ausreichend untersucht worden, als dass man
in der Lage wäre, diese in künstlichen Systemen nachzubilden.
Ähnlich verhält es sich mit der Genforschung. Als im
Februar 2001 das menschliche Genom mit einem großen Paukenschlag
als "entschlüsselt" gefeiert wurde, war den wenigsten bewusst,
dass die Genom-Forschung noch ganz am Anfang steht.
Es reicht eben noch nicht, die Abfolge der DNA-Bausteine zu
kennen, um zu wissen, was den Menschen ausmacht. Die
Kartografierung der DNA ist also ein vergleichsweise kleines
Unterfangen verglichen mit der Aufgabe, sie auch zu
interpretieren und zu verstehen. Bekanntlich besteht das Paradox
der Wissensgesellschaft darin, dass mit dem Aufdröseln von
Nichtwissen in handhabbare Lösungen und bearbeitbare Probleme
zugleich immer auch neues Nichtwissen erzeugt wird, wobei das
Nichtwissen schneller wächst als das Wissen. Möglicherweise
stehen wir nach der Entschlüsselung des Proteoms also wieder vor
ganz neuen Fragestellungen.
Andererseits: Wie lang oder kurz die Zeithorizonte auch
sind, innerhalb derer sich die genannten Entwicklungen vollziehen
werden, ist letztlich nebensächlich. Der Trend weist jedenfalls
in dieselbe Richtung: Der Mensch ist auf dem Weg, die Evolution
in die eigene Hand zu nehmen, statt sie dem Zufall zu überlassen.
Auch wenn solche Zukunftsvisionen wie Stoff für Science Fiction
und Horrorschocker klingen, möge man sich vergegenwärtigen, dass
diese Entwicklungen faktisch stattfinden und vorangetrieben
werden. Nicht erst seit heute wird menschliches Leben durch
Technologie transformiert. Der Mensch ist in diesem Prozess aktiv
gestaltender Treiber und passiv Getriebener zugleich.
Zukunftsgestaltung braucht Werte - und Engagement.
Der Bundestag hat in diesem Jahr
nach langem Ringen einen Kompromiss mit strengen Auflagen zum
Import von Stammzellen verabschiedet, die aus menschlichen
Embryonen gewonnen wurden. Er hat damit Entscheidungen getroffen,
die politisch konsensfähig sind.
Die wirklich heiklen Fragen wurden jedoch abermals in die
Zukunft vertagt: Wo beginnt menschliches Leben? Wo endet es?
Worin besteht es überhaupt? Und schließlich: Wie will und wie
soll die Gesellschaft in Anbetracht des zu erwartenden
wissenschaftlich-technischen Fortschritts mit solchen Problemen
umgehen? Also wird derzeit überall nach neuen Werten gerufen.
Ethik liegt im Trend.
"Der Horror vor der normentleerten Welt wird gerne mit der
Rede von den
�Werten' zugedeckt", schreibt Gero von Randow in der
Wochenzeitung
Die Zeit. Aber um welche Werte kann es eigentlich noch
gehen, wenn, wie am Beispiel "Embryonenschutz" sichtbar wird,
"Ethik-Dumping" längst zum Standortfaktor geworden ist? Die
Gebote Gottes, Ekel vor dem Unnatürlichen, Schutz der Natur oder
gar der Menschenwürde?
Am Beispiel der Bio- und Gentechnologie wird deutlich, dass
die Grundfeste unseres tradierten Moral- und Wertesystems längst
einem morastigen Untergrund gewichen ist, auf dem wir, nach
festen Trittstellen suchend, nur mehr von Problem zu Problem
tappen. Was für die einen ein bloßer Zellhaufen ist, ist für die
anderen ein bereits schützenswertes Individuum, was für die einen
eine krankheitsverhindernde Keimbahntherapie ist, ist für die
anderen ein unzulässiger Eingriff in die Schöpfung.
Die Fortschritte in den Lebenswissenschaften erfordern aber
eine klare Haltung. Wer kann aber schon wirklich gegen die
Stammzellentherapie sein, wenn sie dazu beiträgt, Menschenleben
zu retten? Wollte heute noch irgendjemand Organtransplantationen
in Frage stellen oder das Abschalten der Herzschrittmacher
fordern? Warum in Gottes Namen (!) soll es nicht sinnvoll sein,
dass man Kinder durch Chipimplantate für die
Wettbewerbsanforderungen der Zukunft "aufrüstet"? Warum
verlängern wir das Leben von Menschen in einer alternden
Gesellschaft, wenn die Gesellschaft sich Alter und Krankheit
immer weniger leisten kann?
Die "essentielle Unbestimmtheit und formbare Weichheit der
Welt" (so der polnische Soziologe Zygmunt Bauman) ist ein
Kennzeichen der postmodernen Welt, in der wir leben. Alles
scheint beliebig, alles scheint gestaltbar, alles möglich.
"Design yourself" ist Mythos und einzig erkennbarer Angelpunkt
zugleich. Aber haben wir denn überhaupt eine Idee, wie und womit
wir das Gestaltungsvakuum positiv füllen wollen? Was fangen wir
an mit der Freiheit und den Möglichkeiten, die uns die neuen
Technologien bescheren?
An dieser Stelle muss Gesellschaft wieder bewusst ins Spiel
gebracht werden, als notwendiger Orientierungsrahmen für die
individuelle Lebensgestaltung. Ob diese dann mit dem Label
Informations- oder Wissensgesellschaft versehen, als Dream oder
Network Society charakterisiert wird, ist nicht entscheidend.
In der Realität existieren alle diese Teilgesellschaften
oder Entwicklungsdimensionen parallel, sie durchdringen und
beeinflussen sich gegenseitig. Und jede dieser Gesellschaften hat
ihre Propheten und ihre Kritiker, ihre Helden und ihre Verlierer.
Wenn man möchte, könnte man, einen aktuellen Begriff aus der
Musik aufgreifend, von einer zukünftigen "Crossover Society"
sprechen. Ob diese auf Vielfalt und Komplexität programmierte
Gesellschaft dann die geforderten Orientierungs- und
Integrationsleistungen überhaupt erbringen kann, ist jedoch zu
bezweifeln.
Eine fatale Eigendynamik.
Dennoch sind echte Alternativen
derzeit nicht in Sicht. Warum? Trotz der vermeintlichen
Freiheiten leben wir in einer Gesellschaft, die zwar die Vielfalt
predigt, aber den Versuch, gegen den Strich zu denken, behindert
oder zumindest nicht unterstützt. Als Kinder der 70er und 80er
Jahre befriedigt uns das selbstverständlich nicht. Wir beharren
auf dem Standpunkt der Einmischung und der (Mit-)Gestaltung. Die
Verantwortungsethik des Konzepts einer nachhaltigen Entwicklung
steht uns dabei näher als ein Laissez-faire-Regime, als eine
grenzenlose De-Regulierungslitanei, die doch nur ihre eigene
Phantasielosigkeit kaschiert.
Nüchtern betrachtet, entwickelt sich die Welt, getrieben
von den Fortschritten in Wissenschaft und Technik, dem Verkehr
von Waren und Kapital sowie der Politik, besonders in Zeiten der
Kriege. Die Erfolge der Wissenschaft unterliegen einer starken
Eigendynamik und werden immer stärker zur eigentlichen
Antriebskraft. Entdeckungen, Erfindungen und Innovationen -
einmal in die Welt gebracht, bestimmen sie Art und Tempo
gesellschaftlicher Entwicklung.
Doch wer wollte die Freiheit der Forschung aufhalten? Was
technisch möglich ist, wird auch gemacht (werden). Wenn wir es
nicht machen, machen es eben die anderen. Die Gesellschaft regelt
dann die Folgen oder passt die Wirklichkeit den neuen
Verhältnissen an.
Der Wandel vollzieht sich allerdings so rasant, dass die
Gesellschaften und ihre Adaptionsmechanismen stets rettungslos
hinterherhinken. Schon der Philosoph Günther Anders erkannte vor
bald einem halben Jahrhundert: Wir können mehr herstellen, als
wir uns vorstellen können.
Was bleibt, ist ein fatales Dilemma: Die
wissenschaftlich-technische Entwicklung versetzt uns in die Lage,
selbst Schöpfer und Gestalter unserer Welt zu sein; nur schwindet
mit der Vision grenzenloser Machbarkeit die Vorstellung von einer
wünschbaren Welt. Es bleibt ein Unbehagen vor der Freiheit, die
wir meist nur negativ dadurch zu gestalten wissen, dass wir
artikulieren, was wir nicht wollen.
Der junge mazedonische Theaterregisseur Galin Stoev sagt in
einem Interview: "In der Post-Informationsgesellschaft wird
Phantasie zum wertvollsten Kapital werden." Recht hat er. Machen
wir uns nichts vor, von den drängenden Fragen, die die
Weiterexistenz der Menschheit auf diesem Planeten entscheiden
werden, von der globalen Klima-Problematik über die
Ressourcen-Knappheit und weltweite Aufrüstung bis hin zur
wachsenen Schere zwischen Arm und Reich, ist keine einzige
wirklich gelöst, das zeigt der aktuelle Bericht des Worldwatch
Institute deutlich.
Gestaltungskraft sinnvoll nutzen.
Um diese komplexen Probleme nur
annähernd bewältigen zu können, brauchen wir viel Mut,
Kreativität und soziale Kompetenzen, vor allem aber eine gut
entwickelte Diskurskultur, um immer wieder neu und konsensual die
Bedingungen auszuhandeln, unter denen wir Technologien zulassen
und sinnvoll nutzen. Und hier gibt es, trotz globaler Märkte und
Handelswege, weltweit vernetzter Communities (mittlerweile sind
allein mehr als 24.000 NGOs auf internationaler Ebene tätig) und
politischer Institutionen, kurz: einer Vielzahl von Bühnen, auf
denen so viel kommuniziert wird wie nie, noch eine Menge zu tun.
In den vergangenen Jahrzehnten wurde dem Aufbau von -
technologischen wie sozialen - Netzwerken sehr viel
Aufmerksamkeit und Energie gewidmet. Die Gestaltungskraft der
puren Vernetzung wurde jedoch überschätzt. Um die
Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen, muss es
jetzt darum gehen, die Netzwerke im positiven Sinne
handlungsfähig zu machen. Dafür brauchen wir kreative
Verknüpfungen, sinnstiftende Zusammenhänge zwischen Menschen und
Kulturen sowie Kooperationsbeziehungen, die von
Verantwortungsbewusstsein und gegenseitiger Achtung geprägt sind.
Darüber hinaus müssen wir neue institutionelle Arrangements
treffen, die eine gleichberechtigte Teilhabe der
unterschiedlichen Interessengruppen gewährleisten.
Bei allem bleibt zu bedenken, dass die
Entwicklungsmöglichkeiten der Gesellschaft immer auch von den
ökonomischen Rahmenbedingungen bestimmt werden. Allzu oft gehen
unsere Zukunftsprojektionen stillschweigend vom Zustand
anhaltender Prosperität und damit von linearen Fortschritten und
"weichen" Übergängen aus. Realistische Zukunftsentwürfe müssen
jedoch auch mögliche Störereignisse und denkbare Brüche in der
gesellschaftlichen Entwicklung mitdenken, um zu tragfähigen
Umsetzungsstrategien zu gelangen. Was wir also brauchen, sind
Innovationen, die neben dem technischen Fortschritt auch bewusst
soziale und kulturelle Neuerungen umfassen.
Diese Formel mag wenig innovativ klingen, aber vielleicht
ist gerade das Überdenken unserer zwanghaften
Technologie-Fixierung schon ein wichtiger Schritt zu einem
vernünftigeren Umgang mit unserer Zukunft.
Klaus Burmeister, Andreas Neef und Beate Schulz-Montag sind Zukunftsforscher und Gesellschafter der Z_punkt GmbH Büro für Zukunftsgestaltung in Essen, Karlsruhe und Berlin. Sie beraten Großunternehmen bei der Erarbeitung von Langfriststrategien und im Bereich des Innovationsmanagements.
Buchtipp:
Dieser Beitrag ist eine gekürzte Leseprobe aus
Was kommt nach der Informationsgesellschaft?, dem
aktuellen Buch der Bertelsmann Stiftung (Gütersloh 2002, 308
Seiten). Mit freundlicher Genehmigung der Autoren.
www.z-punkt.de
www.bertelsmann-stiftung.de
© changeX Partnerforum [06.08.2002] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Klaus BurmeisterKlaus Burmeister ist Gründer und Managing Partner von Z_punkt The Foresight Company.
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Andreas NeefAndreas Neef ist Managing Partner von Z_punkt.