Hierarchie verlernen
Selbstorganisation ist ein schillernder Begriff, und genau besehen ist keineswegs klar, was damit eigentlich gemeint ist. Unterschiedliche Sichtweisen finden sich sowohl beim Verständnis von Selbstorganisation wie bei Konzepten zu ihrer praktischen Umsetzung. Zeit, das Feld abzustecken. Und Menschen zu fragen, die in und mit Selbstorganisation arbeiten. Eine Erkundung. Hier im Interview: Lennart Keil, Organisationsentwickler in Heidelberg und Co-Autor des Buchs unlearning hierarchy.
Was ist und was soll Selbstorganisation? Und was braucht es, um sie möglich zu machen? Diese und ein paar weitere Fragen an Lennart Keil.
Lennart Keil ist Organisationsentwickler, Psychologe und Mitbegründer des New Work Movements bei SAP, dem über 3000 Mitarbeitende angehören. Er verbindet moderne Ansätze rund um Agilität und Selbstorganisation mit psychologischem Fachwissen und systemischem Coaching. Zusammen mit Daniel Vonier hat er das Buch unlearning hierarchy: Expedition in die Selbstorganisation geschrieben, das 2022 bei Vahlen erschienen ist.
Was muss man wissen, um Selbstorganisation zu verstehen?
Selbstorganisation ist ein Prozess. Es ist keine Organisationsform, keine Haltung, keine Methode. Es gibt jedoch Strukturen, Prozesse und Verhaltensweisen, die Selbstorganisation stärker fördern beziehungsweise die gegeben sein müssen, damit Selbstorganisation möglich wird.
Was verstehst du unter Selbstorganisation? Und welche Strukturen, Prozesse und Verhaltensweisen können sie fördern?
Ich verstehe unter Selbstorganisation die spontane, also nicht zentral gesteuerte Entstehung von Ordnung in komplexen Systemen. Übertragen auf Organisationen bedeutet das: Wir schaffen Strukturen und Prozesse und nutzen Methoden, die es uns ermöglichen, dezentral und vor Ort Entscheidungen zu treffen und auf Veränderungen zu reagieren. Ein einfaches Beispiel: Wir ermöglichen es einem Mitarbeiter, Geld auszugeben, ohne dass er eine Vorgesetzte oder ein Gremium um Erlaubnis fragen muss. Ein komplexeres Beispiel: Wir gestalten eine Organisation nach dem Prinzip verteilter Führung, so dass viele Menschen mitentscheiden und mitgestalten und nicht Macht und Steuerung auf einige wenige Personen zentralisiert ist.
Gibt es weitere Kontexte, in denen Selbstorganisation thematisiert wird und mit welchen unterschiedlichen Bedeutungen?
Selbstorganisation ist ein komplexer Begriff, der je nach Kontext unterschiedliche Nuancen hat. Im Kern geht zum Beispiel die Selbstorganisation in der Biologie auf die gleichen Kernprinzipien zurück, wie in Organisationen. Doch über das Verständnis dieses Kerns hinaus ist es mindestens ebenso wichtig, jeweils im Kontext mit den Beteiligten zu klären: Worum geht es uns hier und heute? Sonst redet man schnell aneinander vorbei.
Ist der Begriff Selbstorganisation passend und hilfreich?
Ja, absolut. In meinen Augen setzt der Begriff die richtigen Schwerpunkte: Autonomie, Steuerung, Führung, und das mit einer klaren Richtung - weg von zentraler Kontrolle hin zu Dezentralisierung, weg von Statik hin zu mehr dynamischer Steuerung und Emergenz. Der verwandte und beliebte Begriff der Agilität hingegen wird sehr stark auf Methoden und dogmatische Organisationsstrukturen reduziert. So kann es passieren, dass zwar mit neuen Methoden experimentiert wird, ohne jedoch die Art und Weise, wie gesteuert wird oder wie Entscheidungen getroffen werden, im Kern weiterzuentwickeln.
Ein Nachteil ist, dass der Begriff Selbstorganisation oft missverstanden wird als Selbstüberlassung - Anarchie, keine Führung - und assoziiert ist mit Zeitmanagement - ich organisiere meinen Alltag. Doch eigentlich alle komplexen Begriffe wie Führung, Transformation, Qualität et cetera leiden darunter, dass wir wenig Klarheit haben, was genau wir eigentlich meinen.
Wofür wäre Selbstorganisation eine Lösung?
Die gezielte Förderung von Selbstorganisation ist eine Lösung für die Frage: Wie können wir Menschen Systeme gestalten, die schneller auf Unerwartetes und Neues reagieren und sich kontinuierlich weiterentwickeln? Oder auch: Wie können wir uns organisieren, um einerseits den Herausforderungen unserer Zeit gewachsen zu sein und gleichzeitig mit Begeisterung und auf gesunde Weise zusammenzuarbeiten?
Was ist das Gegenteil von Selbstorganisation?
Fremdsteuerung, Hierarchie, Bürokratie. Organisationsprinzipien, die Macht und Verantwortung dem einzelnen Team oder der Einzelperson maximal entziehen und versuchen, diese wie ein Rädchen in einem Getriebe aus der Ferne zu kontrollieren und anzusteuern. Zwei Beispiele: Das Gegenteil von Selbstorganisation ist, wenn ein Abteilungsleiter mit einem Gehaltsbudget in Millionenhöhe um Erlaubnis fragen muss, um eine neue Computermaus zu bestellen. Das Gegenteil von Selbstorganisation ist auch, wenn wir hochqualifizierten Fachleuten immer mehr Regeln und Vorgaben machen und jeden ihrer Schritte dokumentieren und absichern lassen, weil wir Ihnen nicht vertrauen und meinen, alles kontrollieren zu können.
Hat Selbstorganisation Grenzen?
Ja, auf jeden Fall. Selbstorganisation ist kein Allheilmittel. Es ist wichtig, Selbstorganisation dort zu fördern, wo es uns wirklich weiterhilft und einen Unterschied macht. Es führt aber zu Chaos und Überforderung, wenn wir zu viele Grenzen und Leitplanken hinterfragen und zu viel auf einmal in verteilte Verantwortung geben. Also lieber auf bewährten Strukturen aufbauen - und auch klar erkennen, wo Fremdsteuerung und hierarchische Strukturen gut funktionieren. So geht es in den meisten Fällen zu weit, Führungsrollen beziehungsweise Führungskräfte abschaffen zu wollen. Oft bedeutet Selbstorganisation eher, Führung auf unterschiedliche Bereiche oder auf mehrere Personen aufzuteilen.
Die Frage gewendet: Werden Selbstorganisation Grenzen gesetzt? Gibt es - in der Gesellschaft, in Unternehmen und anderen Organisationen - Barrieren, Hemmnisse und Restriktionen, die Selbstorganisation blockieren oder einschränken?
Eines der größten Hemmnisse in meinen Augen ist, dass wir kulturell dazu konditioniert sind, hierarchische Strukturen und Prozesse zu reproduzieren. Wir haben hervorragend gelernt, auf diese Weise zu denken und in solchen Systemen zu funktionieren.
Darüber hinaus bedienen hierarchische Ordnungen unser Bedürfnis nach Status, nach Anerkennung für unsere Leistungen. Wer bin ich? Was bin ich wert? Was habe ich erreicht in meinem Leben? Unser Ego und unser empfundener Wert in der Gesellschaft definieren sich über Titel, Gehälter und darüber, wie hoch mein Budget ist oder wie groß meine Abteilung.
Gleichzeitig haben wir gelernt, sehr viel Verantwortung an solche Strukturen abzugeben. Es ist sehr komfortabel, als Mitarbeiter sagen zu können "Unsere Strategie? Das ist nicht mein Problem!" Oder: "Der Konflikt mit dem Kollegen? Darum muss sich mein Chef kümmern!"
Wenn wir mehr Selbstorganisation fördern und einfordern, stellen wir immer wieder fest: In beide Richtungen gibt es einiges an Liebgewonnenem zu verlieren - Status und Macht auf der einen Seite, Bequemlichkeit und die "Das-ist-nicht-mein-Problem"-Haltung auf der anderen. Deswegen der Titel unseres Buchs unlearning hierarchy - Expedition in die Selbstorganisation: Weil es eben darum geht, Bewährtes loszulassen und sich neu zu erfinden. Und das ist kein Spaziergang.
Können Menschen Selbstorganisation?
Jeder Mensch kann Selbstorganisation. Das ist keine Frage von Bildung oder Haltung. Aber manche Menschen, mit denen wir uns auf diese Reise machen, sind so stark geprägt durch die Glaubenssätze des Managements im letzten Jahrhundert, dass es ihnen besonders schwer fällt, diese aufzugeben. Wer beispielsweise zutiefst daran glaubt, dass Menschen dem Bild des Homo oeconomicus entsprechen und jederzeit nur ihren eigenen Nutzen maximieren, dem wird es sehr schwer fallen, sich wirklich auf mehr Selbstorganisation einzulassen.
Gewinnt Selbstorganisation an Bedeutung?
Ja, sie wird wichtiger. Es wird immer schwieriger, zu wissen, was die Zukunft bringt, welches die richtigen Lösungen sind oder wie ein Markt oder Produkt in drei Jahren aussehen wird. Vor wenigen Jahren wusste niemand, was ein Data Scientist ist, heute gehört dieser Job zu den gefragtesten und bestbezahlten. Wer weiß heute, welche Rolle die Künstliche Intelligenz in der Medizin einnehmen oder wie sie die Arbeit von Textern, Übersetzern oder Grafikdesignern verändern wird? Wir brauchen Organisationen und Rahmenbedingungen, die es uns ermöglichen, uns immer wieder neu zu erfinden. Um uns auf das nicht Kontrollierbare und nicht Planbare einzustellen.
Woran lässt sich dieser Bedeutungszuwachs festmachen?
Die gestiegene Bedeutung von Selbstorganisation lässt sich auch festmachen an der großen Aufmerksamkeit für das Thema. Es ist gerade ein ziemlicher Hype-Begriff in der deutschsprachigen Wirtschaftswelt. Das lässt sich an der Managementliteratur ablesen, an Tagungen und Kongressen und an Unternehmensnetzwerken. Ich selbst bin Teil eines Netzwerkes, des Konzernaustausches Selbstorganisation (KASO) mit über 300 Mitgliedern aus zahlreichen deutschen Konzernen. Und auch darüber hinaus zeigt sich die Bedeutung von Selbstorganisation, zum Beispiel im Rahmen von Dezentralisierten Autonomen Organisationen (DAOs) auf Basis der Blockchain-Technologie. Oder daran, dass immer mehr digitale Kollaborationstools und Startups rund um Crowdfunding, Crowdsourcing, offene Kollaboration und Open Source entstehen, die dezentralisiert hervorragend funktionieren.
Sollte es mehr Selbstorganisation geben?
Ja. Insbesondere dort, wo wir mit klassischen Organisationsprinzipien zunehmend krachend an der Realität scheitern. Wo Digitalisierung und Technologie die Geschäftsmodelle auf den Kopf stellen. Wo die Führungskräfte überfordert sind, wo ständig die Organisation umgebaut wird oder neue Heilsbringer geholt werden, wo die Mitarbeitenden sich nicht gesehen, gehört und gefördert fühlen.
Welche sind die größten Hemmnisse für mehr Selbstorganisation?
Siehe auch die Frage vorher zu den Grenzen, die Selbstorganisation gesetzt sind. Ein wichtiges Hemmnis ist noch: Nicht nur Unternehmen, auch andere Institutionen und Organisationen wie Schulen, Universitäten, Vereine et cetera können sich weiterentwickeln und mehr Selbstorganisation fördern. Die meisten dieser Institutionen verharren aber beim archetypischen Bild von Führung: Einer steht vorne: Lehrer, Professor, Vorstand. Und der (leider meistens männlich) sagt, wo es langgeht. Wer in der Schule schon erlebt, dass sie oder er mitverantwortlich sein kann, mitgestalten kann, geht anders ins Studium und tritt dann auch mit anderen Erwartungen und Kompetenzen in die Arbeitswelt.
Welche Bedeutung hat Selbstorganisation ganz konkret für dich und deine Arbeit?
Als Organisationsentwickler helfe ich Teams und Organisationen, mehr Selbstorganisation zu fördern und einzufordern. Die Art und Weise, wie ich dabei vorgehe, ist durch die Prinzipien der Selbstorganisation geprägt: Ich gehe schrittweise vor, viel geht vom Team aus, es wird gemeinsam gestaltet und nicht einfach eine Schablone angewendet. Ich begleite, orientiere, gehe auch mal ein paar Schritte voraus, aber viel mehr ist es eine gemeinsame Expedition auf Augenhöhe.
… kann man dies auch als Beschreibung eines neuen Führungsverständnisses unter den Bedingungen von Selbstorganisation lesen? Deine Aussage oben war ja, dass es nicht darum gehe, Führung und Führungsrollen abzuschaffen. Aber wohl zu verändern?
Ja, ein neues Verständnis von Führung ist hilfreich. Führung kann dynamisch sein, situativ, und kompetenzbasiert - anstatt statisch und personifiziert. Es braucht nicht unbedingt die einzelne Führungsperson, damit eine Organisation gut geführt ist. In Organisationen investieren wir viel Zeit und Aufmerksamkeit in die Auswahl und Ausbildung von Führungskräften - was wäre, wenn wir einen guten Teil dieser Energie darin investieren würden, kraftvolle Prinzipien und selbstorganisierte Teams zu etablieren? Ich bin mir sicher, Probleme in Organisationen wie langsame Entscheidungsprozesse oder fehlende Klarheit - die meist auf "mangelnde Führung" zurückgeführt werden - ließen sich so grundlegender lösen.
Oben ist auch schon der Titel eures Buches aufgetaucht Mit "unlearning" habt ihr ein brennendes Thema angesprochen: Wie bekommen wir nicht mehr zeitgemäßes Wissen aus unseren Köpfen? Die Frage ist: Wie gelingt Entlernen?
Entlernen bedeutet weniger, veraltetes Wissen loszuwerden. Vielmehr bedeutet es, dass wir tief verankerte Programme schrittweise lockern. Verlernen ist schwer, denn was wir gelernt haben, ist ein fester Teil unserer Identität geworden. Wir sind beispielsweise darin sozialisiert, unseren Wert an der Position in einer klassischen Hierarchie zu bemessen. Wenn ich nun aber in einer dynamischen Netzwerkstruktur unterschiedliche Rollen einnehme - wer bin ich dann noch? Was bin ich wert? Unlearning bedeutet für uns beispielsweise zu lernen, uns nicht mehr so stark über unsere Rollen zu definieren. Damit das gelingen kann, braucht es vertrauensvolle Räume, in denen Menschen über ihre Emotionen und Ängste offen sprechen können.
Welche Frage stellst du dir selbst zur Selbstorganisation?
Ich frage mich, wie viel daran ist Hype und Oberfläche? Und wie bereit und entschlossen sind wir als Organisationen und als Menschen für einen neuen Blick auf und einen neuen Zugang zu Führung und Organisation? Es braucht viel Mut und viel Klarheit, denn es gibt große Widerstandskräfte. Ich kann verstehen, wenn manche doch lieber bei den bewährten Ansätzen bleiben, gerade in Krisenzeiten, Stichwort Inflation, Unsicherheit, hohe Kosten. Das wäre aber fatal. Es ist kein Spaziergang, aber ich bin überzeugt: Die Zeit ist reif für mehr Selbstorganisation.
Das Interview basiert auf einem schriftlich beantworteten Interviewleitfaden mit 15 Fragen, ergänzt mit den Antworten auf einige gezielte Nachfragen.
Zitate
"Selbstorganisation ist ein Prozess. Es ist keine Organisationsform, keine Haltung, keine Methode." Lennart Keil: Hierarchie verlernen
"Selbstorganisation ist ein komplexer Begriff, der je nach Kontext unterschiedliche Nuancen hat." Lennart Keil: Hierarchie verlernen
"Jeder Mensch kann Selbstorganisation. Das ist keine Frage von Bildung oder Haltung." Lennart Keil: Hierarchie verlernen
"Wer zutiefst daran glaubt, dass Menschen dem Bild des Homo oeconomicus entsprechen und jederzeit nur ihren eigenen Nutzen maximieren, dem wird es sehr schwer fallen, sich wirklich auf mehr Selbstorganisation einzulassen." Lennart Keil: Hierarchie verlernen
"Führung kann dynamisch sein, situativ, und kompetenzbasiert - anstatt statisch und personifiziert. Es braucht nicht unbedingt die einzelne Führungsperson, damit eine Organisation gut geführt ist." Lennart Keil: Hierarchie verlernen
"Verlernen ist schwer, denn was wir gelernt haben, ist ein fester Teil unserer Identität geworden." Lennart Keil: Hierarchie verlernen
"Verlernen bedeutet, Bewährtes loszulassen und sich neu zu erfinden. Und das ist kein Spaziergang." Lennart Keil: Hierarchie verlernen
"Wie bereit und entschlossen sind wir als Organisationen und als Menschen für einen neuen Blick auf und einen neuen Zugang zu Führung und Organisation? Es braucht viel Mut und viel Klarheit, denn es gibt große Widerstandskräfte." Lennart Keil: Hierarchie verlernen
"Es ist kein Spaziergang, aber ich bin überzeugt: Die Zeit ist reif für mehr Selbstorganisation." Lennart Keil: Hierarchie verlernen
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Zum Buch
Lennart Keil, Daniel Vonier: unlearning hierarchy. Expedition in die Selbstorganisation. Vahlen Verlag, München 2022, 220 Seiten, 23.90 Euro (D), ISBN 978-3-800666423
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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