Eine andere Art der Selbstorganisation
Selbstorganisation ist ein schillernder Begriff, und genau besehen ist keineswegs klar, was damit eigentlich gemeint ist. Unterschiedliche Sichtweisen finden sich sowohl beim Verständnis von Selbstorganisation wie bei Konzepten zu ihrer praktischen Umsetzung. Zeit, das Feld abzustecken. Und Menschen zu fragen, die in und mit Selbstorganisation arbeiten. Eine Erkundung. Hier im Interview: Gebhard Borck, Unternehmenscoach in Pforzheim.
Was ist und was soll Selbstorganisation? Und was braucht es, um sie möglich zu machen? Diese und ein paar weitere Fragen an Gebhard Borck.
Gebhard Borck arbeitet als Unternehmenscoach und Transformationskatalysator in Pforzheim. In seinem Buch setzt er sich für Die selbstwirksame Organisation ein: eine Organisation, die durch ihre Transformation aus sich selbst heraus Gestaltungsfähigkeit zurückgewinnt.
Gebhard, was muss man wissen, um Selbstorganisation zu verstehen?
Zuerst einmal, dass es für komplexe Systeme etwas ganz Natürliches ist. Deshalb ist Selbstorganisation auch mehr schlecht als recht geeignet, um herkömmliches von neuem Arbeiten abzugrenzen.
Was verstehst du unter Selbstorganisation?
Die Fähigkeit eines Systems beziehungsweise einer Organisation, aus sich selbst heraus in einer sich dynamisch verändernden Umwelt zu bestehen.
Gibt es weitere Kontexte, in denen Selbstorganisation thematisiert wird und mit welchen unterschiedlichen Bedeutungen?
Es ist als Phänomen in physikalischen, chemischen, biologischen und sozialen Systemen beobachtbar. Die Bedeutung ist allerdings stets dieselbe.
Ist der Begriff Selbstorganisation passend und hilfreich?
Aus meiner Sicht ist der Begriff für den Zweck, den die meisten damit verbinden, völlig unpassend: Er soll dabei helfen, neue, zeitgemäße, deutlich verschiedene Arbeitspraktiken und -kulturen von den bekannten des industriell geprägten Scientific Management zu unterscheiden. Leider aber sind alle Spielarten in sämtlichen Kulturen selbstorganisiert. Denn sie sind dazu fähig, in einer sich dynamisch verändernden Umwelt zu bestehen. In welcher Wirtschaftlichkeit, wie sinnvoll für die beteiligten Menschen, zu welchem ökologischen Preis, das steht auf einem anderen Blatt. Das ist mit der Fähigkeit zur Selbstorganisation schlicht falsch adressiert.
Ein besserer Begriff wäre, aus der Evolutionsbiologie abgeleitet, die Adaptionsfähigkeit eines Systems. Sie geht über die Fähigkeit hinaus, in einer komplexen Umwelt zu bestehen. Adaptionsfähigkeit beinhaltet die Eigenschaft, dass ein System sich selbst grundlegend verändert, um die eigene Position in der Umwelt gegenüber anderen Systemen zu verbessern. Das wäre eine klare Abgrenzung vom Scientific Management, das sich zuvorderst um die Optimierung von Produktivität kümmert, also den Blick nach innen richtet und davon ausgeht, dass die Umwelt die Produktivität sinnvoll aufnimmt. Tut sie das nicht, gibt es Marketing, Vertrieb und Lobbyismus, die dafür sorgen. Sprichwörtlich egal, was es kostet.
Wofür wäre Selbstorganisation eine Lösung?
Für den Umgang mit Veränderungen in der Umwelt im Rahmen der eigenen Systemgrenzen. Allerdings ohne Wertung, ob es ein sinnvoller oder ein dummer Umgang ist.
Was ist das Gegenteil von Selbstorganisation?
Von außen, fremd, fix vorgegebene Organisation ohne eigene Anpassungsfähigkeit aus dem System heraus. Ein ferngesteuertes, ferngeregeltes System wie etwa eine Heizungsanlage.
Hat Selbstorganisation Grenzen?
Ja, zum einen physikalische, biologische, chemische, sprich naturgesetzliche. Begrenzend wirkt zudem die mangelnde Vorstellungskraft der einbezogenen Menschen im Hinblick auf die Chancen intelligenter Kollaboration. Und begrenzt ist auch die Fähigkeit, über sich selbst evolutionär hinauszuwachsen.
Die Frage gewendet: Werden Selbstorganisation Grenzen gesetzt? Gibt es - in der Gesellschaft, in Unternehmen und anderen Organisationen - Barrieren, Hemmnisse und Restriktionen, die Selbstorganisation blockieren oder einschränken?
Ja, dieselben wie oben. Wobei die Vorstellungskraft uns auch vorgaukelt, wir könnten uns über die Naturgesetze hinwegsetzen. Doch die Rechnung geht zunehmend sichtbar gegen den Wirt.
Können Menschen Selbstorganisation?
Natürlich.
Gewinnt Selbstorganisation an Bedeutung?
Nein, die Adaptionsfähigkeit gewinnt an Bedeutung.
Woran lässt sich das festmachen?
Nur ganz wenige Organisationen ändern tatsächlich etwas an den grundsätzlichen Mustern ihres Arbeitens. Die weite Mehrheit der bekannten Initiativen wie etwa Agilität, Holacracy und auch viele Teal-Experimente (nach Frederic Laloux’ Reinventing Organizations) machen einfach dort weiter, wo Fließband und Lean altmodisch wurden - was zählt, ist Produktivitätssteigerung durch neue Wege der Ausbeutung der beteiligten Menschen und Technologien.
Sollte es mehr Selbstorganisation geben?
Nein. Das ist, sobald einem die Bedeutung des Begriffs klar ist, unmöglich. Es kann eine andere Art der Selbstorganisation geben. Mehr ist ein Trugschluss. Gefragt ist mehr Wagemut zur evolutionären Adaption.
Nachgefragt: Eine andere Art von Selbstorganisation wäre dann aber dennoch Selbstorganisation?
Genau. Man könnte es auch so zusammenfassen: Selbstorganisation ist. Es kann nicht mehr oder weniger davon geben. Eine Organisation kann versuchen, mit ihr zum Erfolg zu kommen oder gegen sie. Doch das erhöht oder reduziert ja nicht die Selbstorganisation an sich. Es stärkt oder beschneidet ihre Wirkungsweise. Mit deiner Nachfrage würde ich sagen, es wäre toll, wenn künftig mehr Organisationen versuchten, ihre Erfolge in einem klareren Bewusstsein für Selbstorganisation zu erreichen.
Und was meint Wagemut zur evolutionären Adaption genau?
Das ist gut an der Praxis zu erkennen. Inzwischen ist Agilität, Management 3.0 und Ähnliches in den meisten Organisationen angekommen. Die damit verbundenen Methoden werden auf Arbeitsebene immer häufiger genutzt. Ja es gibt sogar Initiativen, die gesamte Arbeitsebene agil zu machen. Fast überall geschieht das mit der Erwartung, die Produktivität zu steigern. Dabei bleiben allerdings die Entscheidungsstrukturen die alten. Wozu diese Produktivitätssteigerung genutzt wird, etwa um weiterhin Autos zu bauen oder stattdessen ganz neue Mobilitätskonzepte zu entwickeln, das entscheidet weiterhin die Spitze der Organisation. Sprich Strategie und Struktur kommen nach wie vor von ganz oben.
Adaptiv wagemutig sind Firmen, bei denen Strategie und Struktur von egal wem kommen darf. In diesem Verständnis noch wagemutiger beziehungsweise konsequenter sind die, bei denen die an der Organisation Teilnehmenden darüber bestimmen, welche strategische oder strukturelle Veränderung sich durchsetzen kann. Ganz konkret: Sobald der Schweißer aus der Produktion einen strategischen Vorschlag einbringen kann, der sich in der Organisation genauso verteilen darf wie die Vorschläge von "CxO & Co", also von der Führungsebene, und dann die Belegschaft mit ihren Füßen darüber abstimmt, ob der Vorschlag des Schweißers oder einer aus der Firmenleitung sich durchsetzt, würde ich die Firma evolutionär adaptiv nennen. Diese Adaptionsfähigkeit macht sich abhängig von unserer Eigenschaft der Selbstorganisation. Ohne diese wäre sie unmöglich. Wenn man so möchte, ist die Selbstorganisation der Motor und die Adaptionsfähigkeit der Antriebsstrang, der die Leistung möglichst verlustarm zum Einsatzzweck bringt.
Welche sind die größten Hemmnisse für mehr Selbstorganisation?
Es gibt keine. Es gibt nur Hemmnisse für die Kraftübertragung. Die Kraft ist da.
Welche Bedeutung hat Selbstorganisation ganz konkret für dich und deine Arbeit?
Eine sehr große und eine sehr geringe zugleich. Ohne sie ist es mir unmöglich, in meiner dynamischen Umwelt zu bestehen. So gesehen ist sie existenziell. Allerdings kam sie einfach mit meinen Mitmenschen und mir auf die Welt. Unter diesem Blickwinkel ist sie trivial.
Welche Frage stellst du dir selbst zur Selbstorganisation?
Warum nach wie vor so viele Menschen annehmen, dass ihre Ernennung zum Heiligen Gral der zeitgemäßen Arbeit mehr war als ein kluger Marketing-Schachzug.
Das Interview basiert auf einem schriftlich beantworteten Interviewleitfaden mit 15 Fragen, ergänzt mit den Antworten auf einige gezielte Nachfragen.
Zitate
"Ein besserer Begriff wäre, aus der Evolutionsbiologie abgeleitet, die Adaptionsfähigkeit eines Systems. Sie geht über die Fähigkeit hinaus, in einer komplexen Umwelt zu bestehen. Adaptionsfähigkeit beinhaltet die Eigenschaft, dass ein System sich selbst grundlegend verändert, um die eigene Position in der Umwelt gegenüber anderen Systemen zu verbessern." Gebhard Borck: Eine andere Art der Selbstorganisation
"Können Menschen Selbstorganisation?"
"Natürlich." Gebhard Borck: Eine andere Art der Selbstorganisation
"Nur ganz wenige Organisationen ändern tatsächlich etwas an den grundsätzlichen Mustern ihres Arbeitens." Gebhard Borck: Eine andere Art der Selbstorganisation
"Es kann eine andere Art der Selbstorganisation geben. Gefragt ist mehr Wagemut zur evolutionären Adaption." Gebhard Borck: Eine andere Art der Selbstorganisation
"Selbstorganisation ist. Es kann nicht mehr oder weniger davon geben. Eine Organisation kann versuchen, mit ihr zum Erfolg zu kommen oder gegen sie. Doch das erhöht oder reduziert ja nicht die Selbstorganisation an sich. Es stärkt oder beschneidet ihre Wirkungsweise." Gebhard Borck: Eine andere Art der Selbstorganisation
"Es wäre toll, wenn künftig mehr Organisationen versuchten, ihre Erfolge in einem klareren Bewusstsein für Selbstorganisation zu erreichen." Gebhard Borck: Eine andere Art der Selbstorganisation
"Meist bleiben die Entscheidungsstrukturen die alten. Strategie und Struktur kommen nach wie vor von ganz oben. Adaptiv wagemutig sind Firmen, bei denen Strategie und Struktur von egal wem kommen darf." Gebhard Borck: Eine andere Art der Selbstorganisation
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Zum Buch
Gebhard Borck: Die selbstwirksame Organisation. Das Playbook für intelligente Kollaboration. Business Village, Göttingen 2020, 306 Seiten, 24.95 Euro (D), ISBN 978-3-869804866
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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