Ohne Entscheidungsfähigkeit wirkungslos
Selbstorganisation ist ein schillernder Begriff, und genau besehen ist keineswegs klar, was damit eigentlich gemeint ist. Unterschiedliche Sichtweisen finden sich sowohl beim Verständnis von Selbstorganisation wie bei Konzepten zu ihrer praktischen Umsetzung. Zeit, das Feld abzustecken. Und Menschen zu fragen, die in und mit Selbstorganisation arbeiten. Eine Erkundung. Hier im Interview: Olaf Hinz, Organisationslotse in Hamburg.
Was ist und was soll Selbstorganisation? Und was braucht es, um sie möglich zu machen? Diese und ein paar weitere Fragen an Olaf Hinz.
Olaf Hinz ist "Lotse für Organisationen im Wandel". Als Sachbuchautor und Speaker agiert der bekennende Hanseat gern als Impulsgeber auf Fachkonferenzen und Barcamps. In seinem letzten Buch Change Maker beschäftigt er sich mit wirksamer Veränderung unter Unsicherheit.
Olaf, was muss man wissen, um Selbstorganisation zu verstehen?
Ich finde es wichtig, sich mit dem Gegenteil zu beschäftigen, der Fremdorganisation. Stellt man sich eine Person als fremdorganisiert vor, wird schnell deutlich, dass Selbstorganisation für jedes Individuum eigentlich etwas Natürliches und Selbstverständliches ist. Selbstorganisation ist fester Bestandteil der Individualität jedes Menschen.
Ebenso wichtig ist es aber, zu verstehen, warum unterschiedliche Organisationen Selbstorganisation ganz unterschiedlich beobachten. Das ist gar nicht so einfach. Aber wenn wir uns das deutlich machen, erscheint die Selbstorganisation in einem anderen Licht. Organisationen sind dazu da, ihren Zweck zu erfüllen. Dazu haben sie die Arbeitsteilung eingeführt. Viele Menschen arbeiten an einem Teil der Leistung der Organisation, und ihre Teile werden durch Prozesse effizient zusammengeführt. Arbeitsteilung führt zum Phänomen, dass für die Organisation die Person zum Personal wird. Die Organisation nutzt und entlohnt nur bestimmte Fähigkeiten der mitarbeitenden Personen. Die Menschen werden zu Personal, zu Mitarbeitenden, wenn sie in die Organisation eintreten, um ihre durch den Prozess zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen. Das bedeutet aber: Selbstorganisation ist etwas, was die Organisation nicht von vornherein begrüßt. Denn zuallererst muss sie den Organisationszweck erfüllen, die Prozesse effizient halten und dafür sorgen, dass die Arbeitsteilung funktioniert.
Was verstehst du unter Selbstorganisation?
Das keine leicht zu beantwortende Frage, weil Selbstorganisation facettenreich zu beobachten ist. In all diesen Facetten ist eines zentral: die Fähigkeit, Entscheidungen zu formulieren, zu treffen und umzusetzen. Ohne diese Entscheidungsfähigkeit und -willigkeit ist Selbstorganisation konsequenz- und wirkungslos. Selbstorganisation manifestiert sich häufig in der Entscheidungsautonomie der kleinsten Einheiten einer Organisation, meist ein Team, manchmal auch ein oder zwei Personen, die Verfahren wie Konsultation, konsultativer Einzelentscheid oder Konsent der sonst üblichen Mehrheitsentscheidung vorziehen.
Gibt es weitere Kontexte, in denen Selbstorganisation thematisiert wird, und mit welchen unterschiedlichen Bedeutungen?
In Politik und Gesellschaft finden wir Selbstorganisation zum Beispiel im Bereich von direkter Demokratie und Volksabstimmung. Auch Projekte, die regionale Tauschwirtschaft oder lokale Lieferketten organisieren, zähle ich dazu. Antreiber der Selbstorganisation ist hier meist die Unzufriedenheit mit der Organisation, hier dem Staat und seinen Organen. Die Prozesse, hier Gesetze, Verordnungen und deren Vollzug, werden als unnütz und nicht mehr "dem eigentlichen Zweck" dienend, erlebt.
Ist der Begriff Selbstorganisation passend und hilfreich?
Er ist der Begriff, der oft genutzt wird. Wenn er von denen gewählt wurde, mit denen ich in Organisationen arbeite, nutze ich ihn auch. Vielleicht gibt es auch andere und passende. Zur Selbstorganisation und der darin liegenden Autonomie gehört aber auch die Freiheit, selbst die Begriffe zu wählen, mit denen man beschreibt, was passiert oder passieren soll.
Wofür wäre Selbstorganisation eine Lösung?
Erstens für die Distanz zwischen dem Unternehmenszweck und den im Unternehmen arbeitenden Personen. Diese Differenz wurde schon von Marx als Entfremdung beschrieben und wird aktuell unter dem Begriff Sinn beziehungsweise Purpose thematisiert.
Zweitens für die enorme Vielfalt der potenziellen Möglichkeiten, den Zweck der Organisation wirtschaftlich erfolgreich zu verfolgen. (Dezentrale) Selbstorganisation kann diese Vielfalt und das dahinter liegende Entscheidungsproblem wirksamer herstellen als einsame Helden an der Spitze einer Organisation.
Was ist das Gegenteil von Selbstorganisation?
Wie oben schon gesagt: Fremdorganisation.
Hat Selbstorganisation Grenzen?
Ja, nämlich immer dann, wenn dem Organisationszweck nicht gedient wird. Also wenn das Personal sich vom Zweck entkoppelt, sprich "sein eigenes Ding macht", oder wenn die betriebswirtschaftliche Logik - die Gewinn-und-Verlust-Rechnung muss größer null sein - verletzt wird.
Die Frage gewendet: Werden Selbstorganisation Grenzen gesetzt? Gibt es - in der Gesellschaft, in Unternehmen und anderen Organisationen - Barrieren, Hemmnisse und Restriktionen, die Selbstorganisation blockieren oder einschränken?
Natürlich, denken wir nur an die ganzen Regeln für Compliance, Good Governance oder die CSR-Thematik. Auch unter den Vorzeichen von Selbstorganisation sind Betrug, Umweltverschmutzung, Ausbeutung von Arbeitenden et cetera ein zu bestrafendes Vergehen. Selbstorganisation hat wie gesagt auch Grenzen, wenn der Organisationszweck infrage gestellt wird.
Können Menschen Selbstorganisation?
Selbstorganisation kann Mensch nicht nicht können!
Gewinnt Selbstorganisation an Bedeutung?
Ja, denn sie ist eine der vielversprechenden Antworten auf die steigende Komplexität, Ungewissheit und Dynamik, mit denen herkömmliche Planungs- und Entscheidungsprozesse nicht Schritt halten können.
Woran lässt sich dieser Bedeutungszuwachs festmachen?
An der explosiv steigenden Zahl von Experimenten mit Selbstorganisation. Und das nicht nur in den dafür "verdächtigen" ;-) Bereichen wie Start-ups und New Media, sondern auch in traditionellen Organisationen. So habe ich "Erbsenzähler" bei ihrem Weg in mehr Selbstorganisation begleitet. Ziel dieses Projekts im Bereich Finanzen und Controlling des Bremer Energieversorgers swb war es, neben der Intensivierung crossfunktionaler Zusammenarbeit und einer Veränderung des Führungsstils, mehr Selbstorganisation zu ermöglichen, indem Verantwortung so verteilt wurde, dass nicht mehr alles über den Tisch des Engpassfaktors Führungskraft gehen muss. Dabei hat sich gezeigt, dass mehr Selbstorganisation möglich ist, aber nur mit der frühzeitigen und umfangreichen Beteiligung der Mitarbeitenden gelingt. (*)
Sollte es mehr Selbstorganisation geben?
Das können nur die Mitarbeitenden in jeder Organisation für ihren spezifischen Kontext entscheiden.
Ich rate dazu, den Evangelisten zu misstrauen, die Selbstorganisation zum neuen Heiligen Gral des Managements ausrufen. Diese Personen haben von Selbstorganisation gar nichts verstanden! Genauso wichtig ist es, die Alternative, die Fremdorganisation, nicht zu verteufeln. Für viele Kontexte ist und bleibt Fremdorganisation eine sinnvolle Art, Arbeitsteilung zu organisieren.
Welche Kontexte wären das?
Ich denke da an Standard- und Routinearbeiten, die keine Varianz dulden. Das finden wir in Produktionsbereichen ebenso wie in Laboren oder im (technischen) Service. Diese Aufgaben können gut "vorgeplant" und zentral "gesteuert" werden. Fremdorganisation ist aber auch ein Kennzeichen bewährter Formen der Krisenbewältigung wie Notfallroutinen oder Krisenstäbe.
Welche sind die größten Hemmnisse für mehr Selbstorganisation?
Engstirnigkeit, Machiavellismus und eine One-size-fits-all-Philosophie.
Welche Bedeutung hat Selbstorganisation ganz konkret für dich und deine Arbeit?
Seit vielen Jahren arbeite ich bei Kunden mit Kollegen zusammen, mit denen mich Freundschaft und Haltung verbindet. Wir sind alle selbständig und sprechen in dieser Autonomie für jedes Kundenprojekt die Bedingungen, Prozesse, Rollen und Verantwortungen neu ab.
Welche Frage stellst du dir selbst zur Selbstorganisation?
Wird Selbstorganisation eine von mehreren leistungsfähigen Alternativen zum Management von Komplexität, Ungewissheit und steigender Dynamik bleiben? Oder werden Interessengruppen sie zum Königsweg aufpumpen und dabei zerstören?
(*) Oliver Reuter, Eddy Eicken, Tom Weigt, Olaf Hinz: "Selbstorganisation in der Energiewirtschaft - ein Praxisbericht. ... und sowas funktioniert bei Erbsenzählern wirklich?", in: Controller Magazin 3 (2021) - Link siehe rechte Spalte.
Das Interview basiert auf einem schriftlich beantworteten Interviewleitfaden mit 15 Fragen, ergänzt mit den Antworten auf einige gezielte Nachfragen.
Zitate
"Selbstorganisation ist fester Bestandteil der Individualität jedes Menschen." Olaf Hinz: Ohne Entscheidungsfähigkeit wirkungslos
"Organisationen sind dazu da, ihren Zweck zu erfüllen." Olaf Hinz: Ohne Entscheidungsfähigkeit wirkungslos
"Selbstorganisation ist etwas, was die Organisation nicht von vornherein begrüßt. Denn zuallererst muss sie den Organisationszweck erfüllen, die Prozesse effizient halten und dafür sorgen, dass die Arbeitsteilung funktioniert." Olaf Hinz: Ohne Entscheidungsfähigkeit wirkungslos
"Ohne die Fähigkeit, Entscheidungen zu formulieren, zu treffen und umzusetzen, ist Selbstorganisation konsequenz- und wirkungslos." Olaf Hinz über Selbstorganisation
"Selbstorganisation hat auch Grenzen, wenn der Organisationszweck infrage gestellt wird." Olaf Hinz: Ohne Entscheidungsfähigkeit wirkungslos
"Selbstorganisation kann Mensch nicht nicht können!" Olaf Hinz: Ohne Entscheidungsfähigkeit wirkungslos
"Selbstorganisation ist eine der vielversprechenden Antworten auf die steigende Komplexität, Ungewissheit und Dynamik, mit denen herkömmliche Planungs- und Entscheidungsprozesse nicht Schritt halten können." Olaf Hinz: Ohne Entscheidungsfähigkeit wirkungslos
"Für viele Kontexte ist und bleibt Fremdorganisation eine sinnvolle Art, Arbeitsteilung zu organisieren." Olaf Hinz: Ohne Entscheidungsfähigkeit wirkungslos
"Mehr Selbstorganisation ist möglich, gelingt aber nur mit der frühzeitigen und umfangreichen Beteiligung der Mitarbeitenden." Olaf Hinz: Ohne Entscheidungsfähigkeit wirkungslos
changeX 02.12.2021. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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(*) Oliver Reuter, Eddy Eicken, Tom Weigt, Olaf Hinz: "Selbstorganisation in der Energiewirtschaft - ein Praxisbericht. ... und sowas funktioniert bei Erbsenzählern wirklich?", in: Controller Magazin 3 (2021)Selbstorganisation in der Energiewirtschaft
Zum Buch
Olaf Hinz: Change Maker. Wirksame Veränderungen unter maximaler Unsicherheit. Verlag Franz Vahlen, München 2020, 144 Seiten, 19.80 Euro (D), ISBN 978-3-8006-6239-5
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Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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