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Beobachter unter sich
Die Welt ist alles, was der Fall ist. So einfach war das mal. Doch heute kann keiner mehr sagen, was der Fall ist. Weil alles, was gesagt wird, von der Art und Weise des Beobachtens abhängt. Wir alle sind Beobachter, die die Welt aus ihrer je spezifischen Perspektive beobachten und auf dieser Basis miteinander kommunizieren und handeln. Sich der Formen des Beobachtens zu vergewissern, ist daher grundlegend für eine Verständigung über die Welt. Gerade über Fragestellungen zwischen und jenseits der Disziplingrenzen.
Formen, das neue Buch von Fritz B. Simon, ist ein Werk von exorbitanter formaler Strenge. Im Interview der Versuch einer Annäherung.
Fritz B. Simon, Doktor der Medizin und Universitätsprofessor, ist Psychiater und Psychoanalytiker, systemischer Familientherapeut und Organisationsberater. Studium der Medizin und Soziologie. Forschungsschwerpunkt: Organisations- und Desorganisationsprozesse in psychischen und sozialen Systemen. Er ist Autor respektive Herausgeber von circa 300 wissenschaftlichen Fachartikeln und 30 Büchern, die in 15 Sprachen übersetzt sind. Sein neuestes Werk Formen ist im März 2018 beim Carl-Auer Verlag erschienen.
Herr Simon, um einen ganz großen Bogen zu spannen: Wenn man den ersten Satz Ihres Buches mit einem anderen ersten Satz kontrastiert - nämlich dem aus Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus -, kondensiert in diesen beiden Sätzen gewissermaßen eine (wenn nicht die) grundlegende Einsicht der letzten 100 Jahre? 1918: "Die Welt ist alles, was der Fall ist." 2018: "Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter zu einem Beobachter ... gesagt."
Es sind keine 100 Jahre, denn der zweite Satz ist circa 50 Jahre alt und wurde von dem chilenischen Biologen und Hirnforscher Humberto Maturana formuliert. Aber Sie haben schon recht, er ist jetzt aktueller denn je. Denn die Frage, was der Fall ist, scheint heute - in Zeiten von Fake News und vermeintlicher Lügenpresse - schwerer zu beantworten. Allerdings haben auch vor 100 Jahren schon unterschiedliche Beobachter unterschiedliche Beschreibungen dessen geliefert, was der Fall ist. Heute sind wir uns darüber klar, dass der Standpunkt, die Perspektive, die Interessen, die blinden Flecken des Beobachters darüber entscheiden, welches Bild der Welt er liefert. Der naive Glaube daran, objektiv feststellen zu können, was der Fall ist, ist erschüttert.
Es kann nicht mehr gesagt werden, dass die Welt ist, was der Fall ist?
Das kann man schon sagen. Allerdings kann keiner mehr sagen, was der Fall ist. Wenn die Frage, was der Fall ist, gestellt wird, kommt es fast zwangsläufig zum Streit beziehungsweise zum Kampf um die Deutungshoheit. Denn alles, was gesagt wird, hängt von der Art und Weise des Beobachtens ab. Das hat weitreichende politische Konsequenzen. Denn niemand kann für sich beanspruchen, im Besitz "der" objektiven Wahrheit zu sein, und man muss sich darüber einigen, was man als Wahrheit betrachtet und zur Grundlage des Handelns macht. Um dies tun zu können, ist es wichtig, sich darüber bewusst zu werden, welches die Gesetzmäßigkeiten menschlichen Beobachtens sind, die sowohl die Grundlage für die Entstehung von Konflikten wie für die Bildung von Konsens sind.
Noch mal zur Eingangsfrage: Darin steckte nicht die Annahme, dass Ihr erster Satz neu sei, sondern die Beobachtung, dass er 100 Jahre nach dem von Wittgenstein erscheint. Deshalb der Begriff "kondensiert". Trägt die Parallele zu Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus?
Die äußere Form meines Buches hat Ähnlichkeiten mit der des Tractatus. Das ist offensichtlich. Aber ich fände es vermessen, mein Machwerk mit dem Werk Wittgensteins zu vergleichen, auch wenn ich von ihm stark beeinflusst bin. Allerdings ist für mich sein Spätwerk wichtiger als der Tractatus. Aber vielleicht verbindet uns ein Motiv: der Wunsch nach konsistenten Formulierungen, wo üblicherweise eine vage und widersprüchliche Begrifflichkeit gebraucht wird.
Kann man sagen, dass Sie in Formen die Erkenntnislage kondensieren? Neben Wittgenstein nennen Sie zahlreiche andere Anstoßgeber, Gregory Bateson, Ernst von Glasersfeld, Humberto Maturana, Niklas Luhmann, Francisco Varela, Benjamin L. Whorf, um nur einige zu nennen …
Ja, das habe ich zumindest versucht. Kondensat ist ein guter Begriff, weil ich dabei zwangsläufig eine ziemliche Verdichtung vorgenommen und mich bemüht habe, einen roten Faden, der das Werk dieser Autoren zusammenfügt, zu spinnen - obwohl das, zugegebenermaßen, eine gefährliche Formulierung ist.
Ist die Entdeckung des Beobachters die zentrale Erkenntnis über die Stellung des Menschen in der Welt? Und über die Welt?
Ja, im Prinzip ist es das wohl. Die Idee, quasi aus einer Außenperspektive auf die Welt schauen zu können, suggeriert eine gewisse Harmlosigkeit des Beobachtens. Die Welt scheint sich nicht davon beeinflussen zu lassen, dass sie beobachtet wird. Wenn aber der Beobachter an dem teilnimmt, was er beobachtet, so ist beobachten keineswegs harmlos. Nicht einmal mehr in der unbelebten Natur kann davon ausgegangen werden, dass die Beobachtung den Beobachteten oder das Beobachtete unversehrt lässt. Aber innerhalb von gesellschaftlichen Prozessen ist es geradezu sträflich, nicht den Prozess des Beobachtens zur Grundlage des Verstehens und Erklärens zu machen. Denn wir alle sind Beobachter, die andere Beobachter beim Beobachten beobachten und auf dieser Basis miteinander kommunizieren und handeln. Wenn wir beobachten, verändern wir uns, wenn wir beobachtet werden, auch, und ebenso verändern sich die Spielregeln des Zusammenlebens. Die aktuellen politischen Krisen und Umbrüche zeigen dies überdeutlich.
Diese Einsicht oder Erkenntnis ist grundlegend für das Selbstverständnis des Menschen in der - sagen wir - Spätmoderne?
Einsicht und Erkenntnis sind auch in der Spätmoderne noch gefragt, aber nicht mehr in einem absoluten, sondern in einem pragmatischen Sinn. Vergleichen lässt sich beides ja ganz gut mit dem Gebrauch von Landkarten. Zum Erreichen unterschiedlicher Ziele sind unterschiedliche Landkarten nötig. Wenn ich eine Bergwanderung unternehme, hilft mir keine Flugkarte, wenn ich fliege, keine Wanderkarte. Aber, und hier kommt der Beobachter wieder ins Spiel, sie müssen gewissen Standards entsprechen, wenn sie nicht nur von einem einzelnen Beobachter, der sie sich auf seine privatistische Weise gezeichnet hat, genutzt werden sollen.
Und das prägt auch die Erfahrungswelt des Menschen?
Wie wir als Menschen uns und die Welt, in der wir leben, beschreiben und erklären, bestimmt nicht nur unser Erleben, sondern auch unser Handeln. Im Unterschied zu früheren Zeiten ist jeder Einzelne durch Massenmedien und soziale Medien mit einer Unzahl konkurrierender Weltsichten konfrontiert, was zwangsläufig zu großer Unsicherheit führt und all den damit verbundenen emotionalen Reaktionen.
Was bedeutet es, den Prozess des Beobachtens zur Grundlage des Verstehens und Erklärens zu machen? Sie hatten auch von Gesetzmäßigkeiten menschlichen Beobachtens gesprochen. Welche sind das?
Bei jedem Beobachten werden zwei Operationen miteinander gekoppelt: Zum einen werden irgendwelche Phänomene - zum Beispiel in der Wahrnehmung - unterschieden. Und zum anderen wird diese erste Unterscheidung dann bezeichnet beziehungsweise mit einem Namen versehen. Daraus lassen sich dann Theorien und Weltbilder bauen. Aber, und das ist der Knackpunkt: Unterschiedliche Beobachter können den Fokus ihrer Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Phänomene richten. Hinzu kommt, dass diese auch unterschiedlich erklärt und bewertet werden können. Die erste Frage lautet also: Was muss überhaupt beobachtet werden, angesichts der Flut von Daten, mit der wir täglich konfrontiert werden? Und was davon kann ungestraft weggedacht werden?
Also die Erfahrung von Komplexität?
Die Welt ist komplex, das ist eine Einsicht, mit der jeder, der Entscheidungen treffen muss - und das ist ja jeder -, umzugehen hat. Komplexität heißt, die Welt ist nicht in ihrer Ganzheit erfassbar. Lewis Carroll beschreibt in einem seiner Texte einen Menschen, der versucht, eine Landkarte im Maßstab 1 : 1 zu zeichnen. Er musste sein Vorhaben aufgeben, weil es unter der Karte so dunkel wurde. Jeder Beobachter muss diese Komplexität reduzieren, wenn er handlungsfähig bleiben will. Er muss unterscheiden und bewusst oder unbewusst auswählen, welche Phänomene er als wichtig erachtet und von welchen er ungestraft abstrahieren kann. Aber er darf die Komplexität nicht zu sehr reduzieren, sonst ist seine innere Landkarte nicht nützlich, wenn sie zum Beispiel, um im Bild zu bleiben, nicht die Schluchten und Abgründe zeigt, in die er auf dem Weg zu seinem Ziel stürzen kann.
Inwiefern werden Systemtheorie und Konstruktivismus dieser Weltlage in besonderer Weise gerecht?
Beides sind Theorieansätze, die sich auf einer formalen Ebene mit der Bildung und Aufrechterhaltung von Strukturen beschäftigen. Sie sind in gewisser Weise mit der Mathematik zu vergleichen, weil sie ohne eigene Inhalte auskommen. So wie man Äpfel und Birnen und Mitarbeiter und Umsätze und Defizite und so weiter zählen kann, so kann man Systemtheorien - es gibt nicht nur eine - universell, das heißt in jedem Phänomenbereich anwenden. Sie gewinnen ihren praktischen Wert allerdings erst, wenn sie mit Inhalten gefüllt werden, zum Beispiel mit der Frage, wie sich die aktuelle Weltlage erklären lässt.
Der Konstruktivismus ist ebenfalls basal, da er Erkenntnistheorie betreibt, aber sich auch als psychologische Theorie mit den Prozessen und Gesetzmäßigkeiten beschäftigt, wie sich Beobachter ihr Weltbild zusammenbasteln. Beide Theoriestränge ergänzen sich, wenn man Beobachter als Systeme betrachtet, und die Beschreibung und Erklärung der Dynamik von Systemen als Form der Beobachtung.
Sie sagen: "Form der Beobachtung"? Ihr Werk heißt Formen. Woher rührt die zentrale titelgebende Bedeutung des Begriffs? Was verstehen Sie unter Formen?
"Form" ist ja ein Begriff, mit dem in der Umgangssprache die Eigenschaft eines Gegenstandes gemeint ist. Ein Auto hat eine bestimmte Form, Verbrauchsgüter werden von Formgestaltern designt et cetera. Dabei wird immer stillschweigend vom Kontext dieser Gegenstände abstrahiert, aber, wie es in meinem Lieblingskalauer heißt, auch die Alpen sind nichts Besonderes, wenn man sich die Berge wegdenkt. In der neueren Systemtheorie wird daher unter einer Form immer eine Einheit aus System und Umwelt verstanden. Wenn Sie einen Schneemann in eine warme Umgebung stellen, dann löst sich seine Form auf; in Kriminalromanen werden Leichen manchmal dadurch beseitigt, dass sie in Säure gebadet werden, weil sie dadurch ihre Form verlieren; und wenn sich die Umweltbedingungen eines Unternehmens verändern, dann besteht das Risiko, dass es ebenfalls irgendwann liquidiert wird.
Sie stützen sich vor allem auf George Spencer-Brown. Welche Bedeutung haben seine Gesetze der Form?
Spencer-Brown war Mathematiker. Er hat ein Buch, einen Kalkül, mit dem Titel Gesetze der Form publiziert, in dem er zeigt, dass alle Strukturbildung - sei sie materiell oder ideell - auf einen einzigen Typus von Operation zurückgeführt werden kann, den er als Bildung von Form bezeichnet.
Welche Bedeutung hat der Aspekt der Form für Formen?
Die Konstruktion von Formen kann auch als Basis aller menschlichen Erkenntnis und allen Beobachtens betrachtet werden. Denn wo immer wir wahrnehmen, denken oder fühlen, vollziehen wir Innen-außen-Unterscheidungen, und darin besteht auf einer abstrakten Ebene jede Formbildung. Wir kreieren Einheiten und ihr Umfeld. Es wird ein Bereich innen, dem bestimmte definierende Merkmale zugeschrieben werden, von einem Bereich außen getrennt, dem diese Merkmale fehlen. Fertig ist die Form, ganz einfach. Mithilfe dieses Konstruktionsprinzips können die komplexesten Weltbilder und Theorien gebaut werden, sei es für den Alltagsgebrauch, sei es in der Wissenschaft. Daher kann die Betrachtung von Formen eine ideale Basis für die Bearbeitung inter- oder transdisziplinärer Fragestellungen liefern.
Haben Sie ein Beispiel?
Nehmen wir die drei Bereiche, die mich - und ich vermute jeden anderen - am meisten interessieren: den menschlichen Organismus, seine Psyche und die sozialen Systeme, in denen wir leben …
... die drei Gegenstandsbereiche des Buchs …
… es sind Bereiche unserer Wirklichkeit, deren Erforschung von unterschiedlichen Disziplinen vorangetrieben wird, die auf ganz unterschiedlichen Prämissen beruhen. So kommt es, dass sie nicht nur nebeneinander her forschen, sondern auch manchmal höchst widersprüchliche Sichten der Welt vertreten und aus ihnen gegensätzliche Handlungsanweisungen ableiten: Ist Intelligenz angeboren oder erworben und durch das Milieu bestimmt? Sollten psychische Auffälligkeiten durch Psychopharmaka oder durch Psychotherapie behandelt werden? Muss ein Mitarbeiter, der mit seinem Job nicht zurechtkommt, zum Coaching geschickt werden oder muss etwas an der Struktur des Unternehmens verändert werden? Und so weiter. Der Streit der Schulen rührt dabei daher, dass es keine Basis gibt, die Wechselbeziehungen der drei Typen von Systemen so zu konzeptualisieren, dass sinnvoll Hypothesen über ihre gegenseitige Beeinflussung aufgestellt werden können.
Das wäre möglich, glauben Sie? Oder kollidieren hier Weltanschauungen - Paradigmen -, die inkommensurabel, also unvereinbar sind?
Ja, im Prinzip sollte das möglich sein. Denn wenn man sich auf die skizzierte formale Basis menschlicher Erkenntnis besinnt, kann man Hypothesen über die Wechselbeziehungen dieser drei gekoppelten Systemtypen bilden, die dann im Idealfall auch empirisch überprüft werden können.
Zum Verständnis: Ihr Ansatz ist integrierend? Es geht Ihnen darum, Organismus, Psyche und soziale Systeme miteinander zu verbinden oder zu verschränken?
Es geht nicht um das viel gepriesene "ganzheitliche Denken". Die Ganzheit der menschlichen Existenz, des menschlichen Lebens und Arbeitens, ist nicht zu erfassen. Aber möglich ist, die internen Dynamiken und Funktionslogiken dieser drei klar gegeneinander abgrenzbaren Typen von Systemen sowie ihrer Wechselbeziehungen zu erfassen. Integration heißt hier also nicht Verschränkung, sondern klare Unterscheidung und In-Beziehung-Setzung.
Was kann eine solche Theorie leisten? Je größer der Geltungsbereich, desto abstrakter werden notgedrungen die Aussagen. Besteht nicht die Gefahr, dass eine Theorie so allgemein wird, dass sie den Bezug zur Lebenswirklichkeit der Menschen verliert?
Ja, es ist das Risiko abstrakter Modelle, dass der Bezug zur Lebenspraxis verloren geht. Das ist im Prinzip ähnlich wie in der Mathematik. Sie beschäftigt sich mit formalen Beziehungen und ist ohne eigene Inhalte. Daher kann sie, das ist der Vorteil, auf unterschiedliche Inhalte angewandt werden. Sie können Äpfel und Birnen zählen, Gewinne und Verluste, Zuwanderer und Auswanderer und so weiter. Aber darin liegt auch der kaum zu bemessende ökonomische Nutzen solch abstrakter Modelle: Wer sie verwendet, braucht nicht für jeden Wirklichkeitsbereich ein neues Modell, sondern braucht das allgemeingültige nur mit den jeweils aktuell relevanten Inhalten zu füllen.
Das gilt auch für die Systemtheorie. Sie ist, gerade weil sie so abstrakt ist, in der Biologie, der Psychologie und Soziologie - und vielen anderen Disziplinen - nutzbar. Der Praktiker hat aber nur dann einen Gewinn, um das noch einmal zu betonen, wenn es ihm gelingt, sie jeweils auf seine Situation anzuwenden und mit konkreten Inhalten zu füllen. Für Professionals, die es mit nicht berechenbaren Systemen zu tun haben, also etwa im Management und der Beratung, im Coaching oder der Therapie, um nur einige Bereiche zu nennen, sind systemtheoretische Ansätze aus meiner Sicht ideal, da man sie - wenn man sie erst einmal verstanden hat - fast überall anwenden kann. Für faule Leute ideal, denn sie kommen mit einem Navigationssystem durch die Welt. Für Menschen, die in der Schule schon Schwierigkeiten hatten, drei und drei zusammenzuzählen, dürften sie aber ein Graus sein.
Liegt hierin die Intention Ihres Buches? Wenn man so will, die intendierte intellektuelle Dienstleistung? Mein Lektüreeindruck ist: Wenn ich einmal etwas über ein Phänomen aus den drei Gegenstandsbereichen wissen will - sei es zum Thema Selbstorganisation, Markt oder psychische Störungen -, brauche ich nur Formen zur Hand zu nehmen und finde auf zwei, drei, vier Seiten die wichtigsten Strukturmerkmale zusammenhängend dargestellt. Ist es das: ein Angebot der Vergewisserung in einer komplexen, interdependenten Welt?
Ja, freut mich, wenn Sie diesen Eindruck haben. Eines meiner Ziele war und ist, der Sprachverwirrung, die im Bereich systemischer Ansätze herrscht, etwas entgegenzusetzen. Eine saubere Theorie hilft, innovative Praktiken zu schaffen. Und da ich mich als Praktiker sehe, der zwanghaft genug ist, um sich nicht mit dem weitverbreiteten schlampigen Denken der geschätzten Kollegen abzufinden, habe ich mich darangemacht, die mir relevanten Theoriefragen durchzudeklinieren und kondensiert darzustellen.
Haben Sie ein Beispiel für eine durch eine saubere Theorie geleitete innovative Praxis?
In vielen Unternehmen versucht man Veränderungen dadurch zu erreichen, dass man Mitarbeiter zu einer Weiterbildung oder zum Coaching schickt. Dabei geht man davon aus, dass die Veränderung des Einzelnen zur Veränderung des Unternehmens führt. Das ist aber Quatsch. Wenn man Organisationen als Kommunikationssysteme betrachtet, wird deutlich, warum. Denn auch wenn sie einen Mitarbeiter in einen Chinesischkurs schicken, wird nachher wahrscheinlich nicht Chinesisch im Unternehmen gesprochen. Es wäre also sehr viel schlauer und innovativer, sich Gedanken darüber zu machen, wie man eine Kommunikation wahrscheinlicher macht, die zu den gewünschten Ergebnissen führt. Kommunikationsforen zu etablieren, die kollektive kreative Prozesse fördern, ist daher schlauer, als alle Mitarbeiter in ein Kreativitätstraining zu schicken. Das ergibt sich aus einer sauberen Theorie ganz klar.
Um noch einmal auf der Parallele herumzureiten: Wittgenstein war 1918 der Meinung, "die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben". Und Fritz B. Simon 2018?
Die Probleme habe ich sicher nicht gelöst. Aber ich denke, ich habe im Wesentlichen Definitionen geliefert, die ermöglichen, anders über etliche Probleme nachzudenken und nach Lösungen zu suchen.
Das Interview haben wir schriftlich in mehreren Frage- und Nachfragerunden geführt. Dank an Fritz B. Simon für seine Geduld!
Zitate
"Der Standpunkt, die Perspektive, die Interessen, die blinden Flecken des Beobachters entscheiden darüber, welches Bild der Welt er liefert. Der naive Glaube daran, objektiv feststellen zu können, was der Fall ist, ist erschüttert." Fritz B. Simon: Beobachter unter sich
"Es kann nicht mehr gesagt werden, dass die Welt ist, was der Fall ist?" "Das kann man schon sagen. Allerdings kann keiner mehr sagen, was der Fall ist." Fritz B. Simon: Beobachter unter sich
"Alles, was gesagt wird, hängt von der Art und Weise des Beobachtens ab." Fritz B. Simon: Beobachter unter sich
"Wir alle sind Beobachter, die andere Beobachter beim Beobachten beobachten und auf dieser Basis miteinander kommunizieren und handeln." Fritz B. Simon: Beobachter unter sich
"Komplexität heißt, die Welt ist nicht in ihrer Ganzheit erfassbar." Fritz B. Simon: Beobachter unter sich
"Jeder Beobachter muss die Komplexität reduzieren, wenn er handlungsfähig bleiben will." Fritz B. Simon: Beobachter unter sich
"Auch die Alpen sind nichts Besonderes, wenn man sich die Berge wegdenkt." Fritz B. Simon: Beobachter unter sich
"Es geht nicht um das viel gepriesene "ganzheitliche Denken". Die Ganzheit der menschlichen Existenz, des menschlichen Lebens und Arbeitens, ist nicht zu erfassen." Fritz B. Simon: Beobachter unter sich
"Eine saubere Theorie hilft, innovative Praktiken zu schaffen." Fritz B. Simon: Beobachter unter sich
changeX 23.03.2018. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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