Unübersichtliche Gesellschaft
Gesellschaft. Wohin entwickelt sie sich? Wohin driftet sie? Sicher scheint nur, dass die Gesellschaft unübersichtlicher und fluider wird. Auch 2019 war der Zustand unserer Gesellschaften Gegenstand wachsender Verunsicherung. Drei Bücher bemühen sich um Vergewisserung.
In unserer Auswahl der Bücher des Jahres 2019, Thema Gesellschaft: Heinz Budes Solidarität , eine ebenso feinsinnige wie vielschichtige Abhandlung, in der Solidarität neu bestimmt wird als "eine Möglichkeit jedes Einzelnen", zur Verbesserung des Zusammenlebens beizutragen. Thomas Beschorners erfrischendes Buch In schwindelerregender Gesellschaft , in dem er gesellschaftlich wichtige Fragestellungen zeitgemäß, ansprechend und ohne dröge Theorielastigkeit aufbereitet. Und Armin Nassehis Theorie der digitalen Gesellschaft, die den Blick von der Technik auf die Struktur und Komplexität der Gesellschaft selbst lenkt: Muster.
Zur Zukunft einer großen Idee
Nach Gesellschaft der Angst und Das Gefühl der Welt - Bücher, in denen es um die Macht von Stimmungen geht - widmet sich der langjährige Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung, Heinz Bude, nun dem Thema "Solidarität" beziehungsweise der "Zukunft einer großen Idee", wie der Untertitel des Bandes verspricht. In einer Zeit der "enttäuschten Ideologien und der überschätzten Wissenschaft" müsse man mit großen Worten vorsichtig sein, so Bude. Es gäbe weder einen moralischen Zwang zur Solidarität noch einen in der menschlichen Natur angelegten Hang zur Solidarität, "obwohl sich Solidarität für das Zusammenleben als förderlich erweisen kann" und "obwohl der Mensch über einzigartige Fähigkeiten zur Empathie und zur Rollenübernahme verfügt". Anders als Gerechtigkeit, die herzustellen Aufgabe der Politik sei, ist Solidarität für Bude "eine Möglichkeit jedes Einzelnen". Man könne sich ihr verpflichten, "weil man dadurch sein eigenes Leben reicher und lebendiger macht".
In zwölf lose aneinandergereihten Kapiteln - der Autor selbst nennt sie "Meditationen" - widmet sich Bude unterschiedlichen Aspekten von Solidarität. Er spricht von der "Unschuld des Trittbrettfahrers" im modernen Wohlfahrtsstaat, der Klassensolidarität ebenso erschwere wie eine zunehmend fluider werdende Arbeitswelt der "Teams und Projektgruppen … die die einzelnen Individuen in Gegensatz zueinander bringt". Niemand wolle seine persönlichen Vorteile aus dem bestehenden System riskieren, indem er sich etwa einer auf Solidarität pochenden Linken anschließt. Mehrfach rekurriert Bude auf das Wechselverhältnis zwischen dem Sozialstaat "als institutionalisierter Solidarität" und einer "solidarischen Ökologie des alltäglichen Miteinanders", das nur aus der Zivilgesellschaft heraus entstehen könne.
Die Ambivalenz der modernen Individualisierung
Die Ambivalenz der modernen Individualisierung beziehungsweise neoliberalen Selbstoptimierung bringt Bude wie folgt auf den Punkt: "Die Selbstbesorgten rücken von der Idee der Solidarität ab, weil sie darin eine Formel der Schwäche und der Abhängigkeit erkennen. Wer Solidarität fordert, kann oder will sich nicht selbst helfen." In dieselbe Kerbe schlagen Budes Ausführungen zum neuen Trend der Achtsamkeit (mit dem etwa Matthias Horx operiert), ein Programm, das gegen das Zuviel an Reizen wappnen soll, aber simultan gleichgültig mache gegenüber dem, was in der Welt passiert. Es sei fraglich, so Bude, ob die Achtsamen für die Solidarität zu gewinnen seien: "Im Zweifelsfall siegt der Seelenfrieden über die Herzensgüte." Der Autor hält es hier mehr mit dem barmherzigen Samariter aus der Bibel - ein Gleichnis für das handelnde Eingreifen, weil man mit Not konfrontiert ist.
Einer anderen Facette von Achtsamkeit widmet sich Bude in "Rinder, Blätter und die Erde". Mit der Biologin Donna J. Haraway verweist der Autor auf die Solidarität mit den Tieren, den "anders-als-menschlichen Wesen", mit dem Philosophen Emanuele Coccia auf das Eingebundensein in die Natur und dem "Werk der Pflanzen" als Urform der Solidarität: "Die Solidarität der Lebewesen ist eine des wechselseitigen Parasitentums, das wiederum das Leben selbst erhält." Dies führt schließlich zur Metapher der "Erdgebundenheit" des Philosophen Bruno Latour. Die Erde sei - so Latour - kein Planet unter anderen, "sondern der vollkommen einzigartige Ort, wo wir Erdverbundene inmitten von Erdverbundenen leben und sterben".
Ein neues, drittes Wir
Mit der Unterscheidung von "exklusiver" und "inklusiver" Solidarität nähert sich Bude am Ende des Buches dem Zusammenhalt "in einer Welt der Ungleichheit". Dem Aufholen mancher Länder, das zu einer merklichen Abnahme der Zahl der Verarmten geführt habe, stehe die zunehmende Ungleichheit zwischen Weltregionen - aktueller Hotspot der Verarmung ist das Afrika südlich der Sahara - respektive die Zuspitzung innerhalb von Gesellschaften gegenüber. In der heutigen Weltgesellschaft entscheide mehr als die Klasse der Ort, an dem man geboren wird, über die Zukunftsperspektiven von Menschen. In dieser Situation müsse, so Bude, "die ganze Welt der Bezugskosmos von Lebenschancen" sein - und nicht mehr ein "einzelnes Land mit seinem Klassengefüge". Wenn Menschen sich auf den Weg in die Wohlstandszonen machen, dann beweise dies, "dass sie den Anspruch auf ihren Anteil an der Zukunft der Menschheit wahrnehmen wollen".
Bude hat mit Solidarität ein sehr feinsinniges und vielschichtiges Buch vorgelegt. Sein Anspruch, dass wir jenseits der Interessengegensätze innerhalb unserer Gesellschaften ein neues, drittes "Wir" finden müssen, ist hoch. Er verweist jedoch auf die zentralen Zukunftsherausforderungen, die in der Ökologie, der weltweiten Ungleichheit und den wohl weiter zunehmenden Migrationsbewegungen liegen. Solidarität beschwört eine Welt, die wir mit anderen Lebewesen teilen. Sie sei mit Blick aufs Ganze oft sinnlos, doch - so schließt Bude mit Camus - ein Akt der Rebellion gegen die Absurdität des Daseins. Von Hans Holzinger
Vom Schwindel und den Schwindlern
Unsere Gesellschaft ist unübersichtlich geworden. Scheint irgendwie aus den Fugen geraten. Sie "ist schwindelerregend geworden". Das Wortspiel mit dem Begriff Schwindel bildet die verbindende Metapher der Zeitdiagnosen, die der Wirtschaftsethiker Thomas Beschorner in seinem kleinen Buch anbietet - in einem doppelten Sinn: Nicht nur die Gesellschaft mit ihren systematischen Schieflagen ist schwindelerregend geworden, ihre Unübersichtlichkeit und Komplexität ruft auch Schwindler auf den Plan, die mit einfachen Antworten die Menschen hinters Licht führen. In der Tat hat der Schwindel als Gleichgewichts- wie als Wahrheitsstörung dieselbe Wortwurzel, wie der Autor in Grimms Wörterbuch nachschlagend zeigt.
Schwindlig machen kann einen auch die Heterogenität der 24 Kapitel des Buchs, die sich wie eine Achterbahnfahrt durch die Gesellschaft lesen. Sie rühren allesamt an brennende Themen unserer Zeit: Der überforderte Mensch, die Erosion der Gesellschaft, fluide Identitäten, die Schwierigkeiten der Wirtschaft mit der Moral, die Blindheit der zugehörigen Wissenschaft, künstliche Intelligenz und natürliche Dummheit sowie Populismus und erschwindelte Behauptungen sind einige der behandelten Themen. Die Texte sind zwar bereits als Zeitschriften- oder Blogbeiträge erschienen, wurden aber nicht nur aneinandergereiht, sondern redaktionell bearbeitet und miteinander verschränkt. Vorbildlich.
Soziale Experimente gefragt
Drei Diagnosen Beschorners stechen hervor: Erstens sagt er: Wir befinden uns in einer "liminalen Periode", einer Zeit des Übergangs, in der herrschende Ordnungs- und Regelungsprinzipien ihre Gültigkeit verlieren. "Die Welt verflüssigt sich." Zweitens bildet sich ein "neues Ich" heraus, das "seine Identität aktiv sucht, gestaltet und in den Lebensmittelpunkt stellt", gleichwohl aber keine stabile, sondern nur eine fluide Identität herauszubilden vermag. Drittens braucht es dringend neue Formen gesellschaftlicher Teilhabe, braucht es soziale Experimente, um dieses flatterhafte neue Ich in die Gesellschaft einzubinden. Und zugleich den Schwindlern Einhalt zu gebieten.
Dieses Buch zeigt, dass sich auch gesellschaftlich wichtige Fragestellungen zeitgemäß und ansprechend aufbereiten lassen. Das ist Gesellschaftstheorie, frisch präsentiert, auf der Höhe der Zeit, aber ohne dröge Theorielastigkeit. Beschorner stellt Fragen, ohne vorschnell Lösungen hervorzuzaubern. Mehr davon! Von Winfried Kretschmer
Henne oder Ei?
Die Henne-Ei-Frage stellt sich natürlich auch bei der Digitalisierung. Jedenfalls sofern überhaupt noch Fragen gestellt werden und nicht alles euphorisch durchgewunken wird, was sich digital nennt (wie im Diskurs der letzten Jahre). Aber die Frage ist berechtigt: Was war zuerst da? Die Digitalisierung oder eine Nachfrage, ein Bedürfnis danach. Berechtigt ist die Frage, weil es mit der Digitalisierung offenkundig ein Problem gibt. Denn vieles, was zeitgeistig als "digital" beschrieben wird, wurzelt genau besehen in längerfristigen Entwicklungen, die in Zeiten zurückreichen, da Computer sich längst noch nicht flächendeckend durchgesetzt hatten oder gar erst als Prototyp oder Denkmodell existierten. Also: Was war zuerst - die Digitalisierung oder der Wandel der Gesellschaft? Das ist das Thema von Armin Nassehis neuem Buch. Der Münchner Soziologieprofessor fragt, "für welches Problem die Digitalisierung eine gesellschaftliche Lösung ist". Es geht also um ihre gesellschaftliche Funktion. Man sollte Nassehi allein schon dafür dankbar sein, dass er diese Frage stellt, die im allgemeinen Digitalisierungstaumel meist überhaupt nicht aufgeworfen wird. Dabei wäre es für eine Gesellschaft schon wichtig zu wissen, was sie denn mit dem Digitalen anfangen möchte. Nassehis Antwort freilich geht weiter; er zielt nicht auf oberflächlichen Anwendungsnutzen, sondern auf eine Theorie der digitalen Gesellschaft, so der ambitionierte Untertitel des Buchs.
Nassehis Antwort auf die Frage lautet nun, "dass die Digitalisierung unmittelbar verwandt ist mit der gesellschaftlichen Struktur". Mit seinem Buch will er zeigen, "dass die moderne Gesellschaft bereits vor dem Einsatz digitaler Computertechnologien eine digitale Struktur hatte". Das ist in der Tat eine spannende These, die zugleich auch den beeindruckenden Siegeszug digitaler Technologien und Medien erklären kann: Sie verbreiten sich rasant, weil sie zur Struktur der Gesellschaft passen.
Bezugsproblem Komplexität
Um seine These zu belegen, geht Nassehi noch einen Schritt weiter in der Historie zurück als sein Professorenkollege Dirk Baecker, der den Beginn der Digitalisierung in der Elektrifizierung vermutet. Nassehi indes richtet den Blick nicht so sehr auf die Entwicklung der Technik, sondern auf die Gesellschaft selbst. Er legt den Beginn der Digitalisierung auf jene Zeit, "in der sich Gesellschaften selbst als Gesellschaften zu beschreiben begannen". Konkret: die Zeit, als Stadtplanung, Sozialplanung, wissenschaftliche Betriebsführung und systematische Sozialforschung entstanden. Weil Gesellschaften mehr über die eigene Struktur und Dynamik erfahren wollten, um ihre eigene Entwicklung besser in den Griff zu bekommen.
Das bedeutet anders gesagt: "Das Bezugsproblem der Digitalisierung ist die Komplexität und vor allem die Regelmäßigkeit der Gesellschaft selbst." Während vormoderne Gesellschaften bei aller Vielfalt ihrer Ausdrucksformen doch recht einfach strukturiert waren und sich alles, so Nassehi, in ein Oben-unten-Schema fügte, wird Gesellschaft in der Moderne zunehmend unübersichtlich. Unterschiedliche Ordnungsformen existieren nebeneinander. An dieser Komplexität der Gesellschaft setzt die Digitalisierung an - indem sie in deren Unübersichtlichkeit Muster erkennt. Damit liegt, so Nassehis Schluss, "die Digitalität der Gesellschaft in ihrer eigenen Struktur und in ihrer Komplexität begründet". Von Winfried Kretschmer
Zitate
"Die Selbstbesorgten rücken von der Idee der Solidarität ab, weil sie darin eine Formel der Schwäche und der Abhängigkeit erkennen. Wer Solidarität fordert, kann oder will sich nicht selbst helfen." Heinz Bude: Solidarität
"Die Solidarität der Lebewesen ist eine des wechselseitigen Parasitentums, das wiederum das Leben selbst erhält." Heinz Bude: Solidarität
"Dem Norden wie dem Süden bleibt die Einsicht, dass die eine Welt die einzige Welt ist, die wir haben." Heinz Bude: Solidarität
"Die Gesellschaft ist schwindelerregend geworden. Sie präsentiert sich in schrägen Formen und mit systematischen Schieflagen. Wir scheinen den Gleichgewichtssinn verloren zu haben." Thomas Beschorner: In schwindelerregender Gesellschaft
"In den Übergangsphasen von den bestehenden hin zu neuen Strukturen lösen sich etablierte und bewährte gesellschaftliche Deutungen zwangsläufig auf, verlieren herrschende Ordnungs- und Regelungsprinzipien ihre Gültigkeit. Die Welt verflüssigt sich. Sie befindet sich in einer liminalen Periode … Die alte Welt ist nicht mehr und die neue ist noch nicht da." Thomas Beschorner: In schwindelerregender Gesellschaft
"Es mag paradox erscheinen, aber obwohl das neue Ich seine Identität aktiv sucht, gestaltet und in den Lebensmittelpunkt stellt, weist es eine vergleichsweise geringe Identität auf, und zwar nach innen wie nach außen." Thomas Beschorner: In schwindelerregender Gesellschaft
"Zu Mut und Fantasie gehören soziale Experimente." Thomas Beschorner: In schwindelerregender Gesellschaft
"Das Bezugsproblem der Digitalisierung ist die Komplexität und vor allem die Regelmäßigkeit der Gesellschaft selbst." Armin Nassehi: Muster
"Wenn meine These stimmt, dass die Digitalisierung an der Komplexität der Gesellschaft ansetzt und Muster erkennt, die sich dem unmittelbaren Zugriff entziehen, und zwar in Form von handelnden und erlebenden Techniken, dann muss das als Chance begriffen werden." Armin Nassehi: Muster
changeX 16.12.2019. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Ausgewählte Beiträge zum Thema
Die Bücher des Jahres ausgewählt von proZukunft und changeX zu den Zukunftsbüchern 2019
Zu den Büchern
Heinz Bude: Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee. Hanser Verlag, München 2019, 176 Seiten, 19 Euro (D), ISBN 978-3-446-26184-6
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Thomas Beschorner: In schwindelerregender Gesellschaft. Gleichgewichtsstörungen der modernen Welt. Murmann Publishers, Hamburg 2019, 200 Seiten, 22 Euro (D), ISBN 978-3-86774-631-1
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Armin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. C.H.Beck, München 2019, 352 Seiten, 26 Euro (D), ISBN 978-3-406-74024-4
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Autor
Hans HolzingerHans Holzinger war Mitarbeiter der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen (JBZ) in Salzburg. Heute im Ruhestand schreibt er weiter für pro Zukunft, das Buchmagazin der JBZ.
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Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
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