Reingelesen 3 | 2021
Hier nun der zweite Teil unserer Buchumschau mit einem neuen Schwung von Titeln mit Themen querbeet. Mit den wichtigsten Thesen vorgestellt in Kurzrezensionen.
Marylène Patou-Mathis:
Weibliche Unsichtbarkeit.
Wie alles begann.
Carl Hanser Verlag, München 2021, 288 Seiten, 24 Euro (D), ISBN 978-3-446-27100-5
Die Unsichtbarkeit von Frauen und der von ihnen geleisteten Arbeit ist ein Thema der Zeit. Es geht dabei um ein Wahrnehmungsmuster und um reale Diskriminierung. Weibliche Unsichtbarkeit ist das Thema des Buchs von Marylène Patou-Mathis. Die Ur- und Frühhistorikerin zerstört darin den hartnäckigen Mythos, dass sich das Leben der Frauen in früherer Zeit auf das eigene Heim konzentrierte, während die Männer für Schutz, Jagd und Krieg zuständig waren. Es sind zwei Aufgaben, derer sich Patou-Mathis annimmt. Zum einen zeigt sie, "dass die Interpretationen der archäologischen Funde über eineinhalb Jahrhunderte lang von einer Ideologie geprägt waren, die Frauen abwertete". Zum anderen rekonstruiert sie - in einer allgemeineren historischen Perspektive - die Paradigmen, die diese abwertende Ideologie entstehen ließen. Diese Re- und Dekonstruktion beruht auf einer exzellenten Quellenarbeit, die ein ungemein dichtes und historisch tiefes Bild weiblicher Diskriminierung entstehen lässt. Einer Diskriminierung, die systemisch ist, weil sie die Frauen insgesamt betrifft und nicht nur bestimmte Lebensbereiche wie Komposition oder Sport. Nach dem Bild, das sich in Bibeltexten, in Literatur und auch in wissenschaftlichen Werken kristallisiert, "waren Frauen körperlich schwach, psychisch instabil und intellektuell den Männern unterlegen sowie aufgrund geringerer Kreativität weniger in der Lage, Erfindungen zu tätigen". Schon von der Antike her galten Frauen als minderwertig, ja wurden als unvollkommener Mann betrachtet. Und in einer männlich dominierten Wissenschaft und Lehre wurde "diese unterstellte Minderwertigkeit der Frau … schließlich zu einer allgemein akzeptierten Vorstellung". Es ist das große Verdienst von Patou-Mathis, dies mit eindrücklichen Beispielen und Zitaten zu rekonstruieren. Dieses Bild der schwachen Frau bestimmte dann wiederum die Perspektive der prähistorischen Forschung seit ihren Anfängen vor eineinhalb Jahrhunderten. So nahmen die damaligen Historiker ganz selbstverständlich an, dass die Höhlenmalereien von Männern geschaffen wurden und Krieger männlichen Geschlechts waren. Erst jüngere Forschungen widerlegen dieses Bild, wie die Autorin eindrucksvoll beschreibt. "Neue Erkenntnisse zeigen …, dass die prähistorischen Frauen im Prozess der Menschwerdung genauso wichtig waren wie die Männer. Sie prägten Verhaltensweisen, die für die Evolution der Hominiden nötig waren", schreibt Patou-Mathis. Und noch etwas legt ihre Arbeit nahe: Dass die Abwertung und Diskriminierung der Frau historisch in demselben ideologischen Sumpf wurzelt wie der Rassismus: der Ablehnung alles anderen, Fremden durch eine kleine Schicht weißer Männer.
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Margret Rasfeld:
FREI DAY.
Die Welt verändern lernen! Für eine Schule im Aufbruch.
oekom Verlag, München 2021, 192 Seiten, 20 Euro (D), ISBN 978-3-96238-294-0
Innovation vollzieht sich über Erfindung und Nachahmung, so die Erkenntnis des Sozialforschers Gabriel Tarde. Eine neue Idee (oder Erfindung) wird übernommen und dabei, vielleicht auch nur geringfügig, verändert und angepasst: So entstehen Ideenketten, deren Elemente sich aufeinander beziehen und einander variieren, ohne dass dieser Bezug offen zutage treten müsste. Es sind eher Muster, Ähnlichkeiten. Wie das aussehen kann, lässt sich aktuell an der neuen Idee der Bildungsinnovatorin Margret Rasfeld studieren, dem Frei Day. Wer sich hier an Fridays for Future erinnert fühlt, liegt richtig, falsch liegt indes, wer das nur für eine Plattitüde hält. Fridays for Future, diese Bewegung, die ja maßgeblich von Schülerinnen und Schülern getragen wird, gab Rasfeld den entscheidenden Impuls für ihre Idee. Ihr wurde deutlich: Der Schulstreik ist in Wirklichkeit eine andere Form des Lernens, ein "lebensnahes Projektlernen" - und die Zeit, die sich die jungen Klimaaktivistinnen in Form des Klimastreiks nehmen, sollte ihnen eigentlich gegeben werden: als neues Lernformat in Form von freier Zeit für ein freies, selbstbestimmtes und selbstorganisiertes Lernen. Das ist die Idee des Frei Day, die wiederum an die 20-Prozent-Zeit bei Google erinnert. So wie Mitarbeitende dort ein Fünftel ihrer Arbeitszeit auf freie Projekte verwenden konnten, sollen Schulen vier Stunden pro Woche für ein Lernen in frei gewählten Zukunftsprojekten bereitstellen; jahrgangsübergreifend, in Lernteams und ohne Noten - stattdessen mit kompetenzorientiertem Feedback in Reflexionsgesprächen. Für Rasfeld ist das ein Anstoß zu einer weitgehenden Transformation des Bildungssystems: eine "sichere Brücke zwischen dem alten und dem neuen System, die alle betreten können", Schulleitung, Lehrpersonal, Eltern, Schülerinnen und Schüler. Frei Day ist eine soziale Innovation, die anschlussfähig ist und skalierbar. Das Ziel von Rasfelds Initiative: "Bis 2030 sollten alle Schulen in Deutschland einen Frei Day haben." Der müsse auch nicht unbedingt am Freitag stattfinden. Obwohl der in der Geschichte der Arbeit als letzter Arbeitstag der Woche mit einer gewissen Zwanglosigkeit verbunden ist - der kleidungsmäßig lässige Casual Friday zeigt dieses Muster ebenso wie der Spruch "Freitag nach eins macht jeder seins". Oder, gewendet und unvergessen: Thank God it’s Monday.
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Wolf Lotter:
Strengt euch an!.
Warum sich Leistung wieder lohnen muss.
Ecowin Verlag, München/Salzburg 2021, 126 Seiten, 18 Euro (D), ISBN 978-3-711002839
Es sind gewaltige Aufgaben, die vor uns liegen. Es ist ja nicht nur die Klimakrise, die zu bewältigen ist, es geht auch um den zukunftsgerechten Umbau der Sozialsysteme, um ein neues Verhältnis von Arbeit und Leben, um die Neugestaltung von Organisationen, um die Transformation zur Wissensgesellschaft insgesamt. Wir leben in der Übergangszeit zwischen Industrie- und Wissensgesellschaft, sagt Wolf Lotter, und "sie transformiert auch den Leistungsbegriff". Leistung im Industriezeitalter war messbar, normiert, standardisiert und wurde anhand dieser Maßstäbe beurteilt. Heute aber werde intellektuelle Qualität zum Maßstab für Leistung, so Lotter. Etwas leisten bedeute heute, etwas zu erkennen. Und etwas daraus zu machen. "Leistung in der Wissensgesellschaft hat entscheidend mit originellen, unverwechselbaren Lösungen zu tun." Diese Transformation zu einem neuen Leistungsbegriff ist die erste Lektion, die dieses Buch bereithält. Die zweite betrifft den Zustand unserer Gesellschaft, die satt und müde geworden ist, bürokratisch und träge, ausgestattet mit einer Wirtschaft, in der Leistung mit Präsenz gleichgesetzt und die Zeit und Energie der Menschen in sinn- und nutzlosen Meetings verpulvert. Eine "bemühungslose Gesellschaft", in der man aufgehört hat, sich anzustrengen. Doch die gewaltigen Anstrengungen, die mit den Herausforderungen in der Transformation verbunden sind, dulden keinen Aufschub. Sie verlangen, so Lotter, nach einer neuen Leistungsgesellschaft. Die letztlich nicht im Appell an alle wurzelt, sondern in der Bereitschaft aller, sich anzustrengen. "Die Anstrengung ist eine Selbstverpflichtung", schreibt Lotter: "Strengt euch an!" Denn "wo keine Anstrengung ist, ist keine Zukunft".
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J. B. MacKinnon:
Der Tag, an dem wir aufhören zu shoppen.
Wie ein Ende der Konsumkultur uns selbst und die Welt rettet.
Penguin Verlag, München 2021, 480 Seiten, 20 Euro (D), ISBN 978-3-328-60090-9
Ein Gedankenexperiment: Was wäre, wenn wir mit dem Shoppen aufhören würden? Einfach so, von heute auf morgen? Was passiert dann? Das ist die Ausgangsfrage des Buches des kanadischen Journalisten, Herausgebers und Buchautors J. B. MacKinnon. Die Antwort, die er gefunden hat, lautet: erstaunlich wenig. So wie in der Coronakrise die Wirtschaft nicht zusammengebrochen ist, würde auch ein dauerhaftes Ende des "Überkonsums" die Wirtschaft nicht zu Boden ringen. So MacKinnon. Gestützt auf seine Reportagereisen in unterschiedlichste Länder entwirft der Autor ein vielschichtiges und differenziertes Bild des Konsums und der Lust an ihm. Ihn interessiert, was passiert, wenn diese Lust brüchig wird, wenn Menschen sich anders orientieren, ihren Konsum zurückfahren und weniger verbrauchen, weniger reisen. Er fragt: Welche Folgen hätte ein geringerer Konsum für die Wirtschaft, die Arbeit, unser Leben und unser Denken? Wie passen sich Menschen an, wenn der Überkonsum zu Ende geht? Diese Fragen führen in ein Dilemma: "Wir müssen aufhören, einkaufen zu gehen, aber wir können nicht aufhören, einkaufen zu gehen: Im Dilemma des Konsumenten geht es letzten Endes um die Frage, ob das menschliche Leben auf der Erde Bestand haben kann." Weil wirksamer Klimaschutz ohne einen Wandel des Konsums nicht zu haben ist. Dieses Dilemma kann letztlich nur jeder Konsument für sich auflösen. Eine Antwort auf die Ausgangsfrage, was passiert, wenn wir mit dem Shoppen aufhören würden, gibt MacKinnon indes schon: Die globalen Konsumausgaben brechen schlagartig um 25 Prozent ein - und sinken damit auf das Niveau von vor einem Jahrzehnt. Und diese Anpassung des Konsums, sein Zurückfahren auf das Maß von vor ein paar Jahren, ist der eigentlich interessante Gedanke dieses Buches: Was wäre, wenn wir (in den reichen Ländern) unseren Konsum und unser Reiseverhalten einfach zurückdrehen würden? Wir würden dies wohl kaum merken. Im Laufe der Zeit verändere sich dann "die Art und Weise, wie wir Dinge erzeugen. Wir organisieren unser Leben rund um neue Prioritäten und entwickeln neue Geschäftsmodelle für eine globale Kultur, welche die Lust auf den Konsum verloren hat." MacKinnons Botschaft ist optimistisch: "Mit Einfallsreichtum können wir uns anpassen." Befreit vom Verzichtsdenken wird die Einschränkung des Konsums sozial anschlussfähig.
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Steffen Mau:
Sortiermaschinen.
Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert.
C.H.Beck Verlag, München 2021, 189 Seiten, 14.95 Euro (D), ISBN 978-3-406-77570-3
In der euphorisierten Globalisierungsrhetorik der Jahrtausendwende galt es bereits als ausgemacht: Die Grenze ist ein Relikt vergangener Zeiten. Die Globalisierung schaffe nicht nur eine Welt frei fließender Waren- und Datenströme, sondern eine, in der das Recht auf Freizügigkeit endlich Realität wird. Heute entpuppt sich der Glaube, wir lebten im Zeitalter sich öffnender Schranken, erweiterter Mobilitätsmöglichkeiten und durchlässiger werdender Grenzen als Illusion, schreibt der Soziologe Steffen Mau, Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, der durch seine Arbeiten über die Quantifizierung des Sozialen bekannt geworden ist. Er sagt: Es ist falsch, Globalisierung mit porösen oder gar verschwindenden Grenzen zu assoziieren oder gleichzusetzen. Sie sei viel mehr als komplexer in sich auch widersprüchlicher Prozess zu fassen, der Öffnung und Schließung gleichermaßen einschließt. Dabei haben sich die Grenzen gewandelt: "Die Grenze der Globalisierung ist zugleich eine Grenze, an der Ungleichheit erzeugt und auf Dauer gestellt wird." Die Grenze hat dabei ihre klassische Funktion der Sicherung von territorialer Souveränität und Kontrolle nicht verloren. Um diese Sicherungsfunktion herum aber "ist ein umfassendes und räumlich aufgefächertes Kontrollregime entstanden, das sowohl digital wie auch physisch Bewegungen von Menschen erfasst, beobachtet, kontrolliert, lenkt" und ihnen je nach Risikoklassifikation den Übertritt gestattet oder verweigert: "die Grenze als Sortiermaschine". Diese sei zugleich ein "Ungleichheitsgenerator": "Während die einen von der grenzenlos freizügigen Welt schwärmen dürfen, stehen die anderen vor verschlossenen Grenzen." Es entstehe "eine globale Hierarchie der Ungleichheit", beobachtet Mau. Brennend aktuell, siehe Belarus, Mittelmeer, Ärmelkanal.
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Markus K. Brunnermeier:
Die resiliente Gesellschaft.
Wie wir künftige Krisen besser meistern können.
Aufbau Verlag, Berlin 2021, 336 Seiten, 24 Euro (D), ISBN 978-3-351-03925-7
"Die Coronakrise hat gezeigt: Planbarkeit ist eine Illusion in einer Welt, die durch stetigen Wandel geprägt ist. Die aktuelle Pandemie, die Finanzkrise, Extremwetterereignisse - all diese Phänomene scheinen keine Ausnahme mehr darzustellen. Mit Krisen umzugehen wird neue Normalität." So kündigt das Münchner ifo Institut einen Vortrag von Markus Brunnermeier, Professor an der University of Princeton, zum Thema seines aktuellen Buches an, das zum Wirtschaftsbuch des Jahres gekürt worden ist: Resilienz. Mit Corona ist sie in aller Munde, und auch die volatile, unsichere, komplexe und mehrdeutige VUCA-Welt ist in den Köpfen angekommen. Zu prägend ist die Serie extrem unwahrscheinlicher Ereignisse, die die Welt in Atem halten. Der in Deutschland geborene Markus Brunnermeier beschäftigt sich schon länger mit Resilienz und hat die Erkenntnislage in seinem Buch zusammengefasst. Darin geht es (natürlich) immer wieder um die Coronakrise, aber sehr grundlegend um die Fähigkeit von Wirtschaften, Gesellschaften, Individuen, mit Krisen fertigzuwerden. Brunnermeiers Blick ist dabei (natürlich) ökonomisch fokussiert, auch wenn es um die Gesellschaft geht - aber dass die überhaupt und nicht nur als Externalität vorkommt, ist für ein wirtschaftswissenschaftliches Werk schon mal bemerkenswert. "Da wir nicht in einer Gesellschaft ausschließlich eigennütziger Individuen leben, ist der Gemeinschaftssinn entscheidend", betont Brunnermeier und hinterfragt eine Coronapolitik, die staatliches Reglement vor eben diesen Gemeinschaftssinn stellt. Resilienz definiert er als "Fähigkeit, zurückzufedern" und grenzt sie ab von "Robustheit, welche die Fähigkeit ist, standzuhalten". Resilienz betreffe die ganze Gesellschaft, und daher fordert Brunnermeier, der Gesellschaftsvertrag solle selbst resilient sein und müsse deshalb Gerechtigkeit, Chancengleichheit und soziale Mobilität umfassen. Eine so gestaltete Gesellschaft erhöht dann wieder die Fähigkeit der Wirtschaft, mit Herausforderungen umzugehen: "Resilienz eröffnet neue Wege, Wachstum und Nachhaltigkeit zu verbessern" - entscheidend für die Fähigkeit zur Bewältigung der Klimakrise und künftig kommender Schocks. "Wirtschaftliche Aktivität wird zunehmend komplexer und naturgemäß auch riskanter, so dass die Resilienz zu einem Schlüsselfaktor für weiteres Wachstum wird." Ein grundlegendes und inspirierendes Buch.
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Peter Spiegel (Hg.) und 69 Co-Creators:
Future Skills.
30 zukunftsentscheidende Kompetenzen und wie wir sie lernen können.
Verlag Franz Vahlen, München 2021, 414 Seiten, 39.80 Euro (D), ISBN 978-3-8006-6635-5
Die Frage nach Future Skills war noch nie so brennend wie heute, schreibt Thomas Sattelberger, Ex-Personalvorstand diverser DAX-Konzerne und FDP-Bildungspolitiker, im Vorwort des gleichnamigen Kompendiums. Und definiert Future Skills als "kreative, kommunikative, kooperative und informationsbasierte Fähigkeiten". Es geht um eine Kompetenzentwicklung im Sinne einer Zukunftsbildung. Um eine "Fortentwicklung und Neuerfindung von Bildung, die vor allem Haltungen und Kompetenzen herausbilden lässt, mit denen alle Menschen ihr lebenslang weiter wachsendes Wissen souverän und kollaborativ zukunftsgestaltend anwenden können", wie Peter Spiegel, der Herausgeber und Initiator des Projekts, schreibt. Und dies durch einige weitere Adjektive ergänzt, die mit den Rahmen abstecken: agil, resilient, co-kreativ, nachhaltig und menschlich. Mit ihrem Praxisbuch verbinden die Herausgeber die Forderung nach einer Präzisierung und Erweiterung des Menschenrechts auf Bildung, nämlich um ein Menschenrecht auf Kompetenzbildung. Neben und komplementär zum Wissenserwerb und zur Wissensvermittlung brauche es eine Zukunftsbildung, die sich auf Werte, Haltungen, Kompetenzen sowie Formate und Tools stützen kann. Darum geht es dann auch in den einzelnen Beiträgen zu den vorgestellten Future Skills. Diese sind (umgekehrt alphabetisch): Wissenskompetenz, Wertekompetenz, Vision & Imagination, Vertrauen, Transformabilität, Systemisch Denken, Storytelling, Selbstwirksamkeit, Resilienz, Projektmanagement, Nachhaltigkeit, Multiperspektivität, Medienkompetenz, Lernfreude, Leadership, Kreativität, Konfliktlösung, Kommunikation, Innovation & Co-Kreation, Innere Führung, Happiness, Global Citizenship, Future Literacy, Entrepreneurship, Empathie, Digitale Souveränität & Data Literacy, Changemaking, Beziehung & Kollaboration, Begeisterung, Authentizität, Achtsamkeit. Jede dieser Future Skills sei "letztlich mit allen anderen untrennbar verbunden", heißt es im Buch, weswegen jeder Beitrag als Einstieg dienen könne. Fragt sich nur, ob in der gewählten Auswahl die von Sattelberger genannten informativen Fähigkeiten nicht zu kurz kommen. Reichen Data Literacy und Medienkompetenz aus, um die technologischen Umwälzungen nicht nur zu verstehen, sondern mitzugestalten? Braucht es dazu nicht auch Spezialisten für Big Data und Data Mining, für KI und Cyborgs? Und jemanden, der wirklich erklären kann, was Facebooks Algorithmus anstellt (und anrichtet)?
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Josef H. Reichholf:
Flussnatur.
Ein faszinierender Lebensraum im Wandel.
oekom Verlag, München 2021, 320 Seiten, 24 Euro (D), ISBN 978-3-96238-285-8
Dieses Buch kommt zur rechten Zeit. Zufällig, aber mit einer klaren Aussage zu einem Thema, das die Menschen in den letzten Monaten bewegt hat: Eine der schlimmsten Hochwasserkatastrophen der letzten Jahrzehnte, für die das Ahrtal zum Symbol geworden ist, obwohl weit größere Gebiete von den Wassermassen betroffen waren. Es war auch nicht das erste Jahrhunderthochwasser binnen weniger Jahre, und es ist auch nicht das erste, für das der Klimawandel als Ursache dingfest gemacht wird. Josef H. Reichholfs Buch Flussnatur zeigt nun eindrücklich: Falsch ist dies nicht, aber so einfach ist es auch wieder nicht. Natürlich spielen Klimawandelphänomene eine Rolle, aber nicht in dem monokausalen Erklärungszusammenhang, der von den Medien gerne gestrickt wird. In Wirklichkeit sind die Dinge verzwickter. Komplexer. Das macht Reichholfs Buch deutlich, obwohl sein Thema nicht einmal die Hochwasserlage ist. Es handelt sich um den ersten Band einer Trilogie, die sich den Landschaftsformen widmet. Lediglich ein aktuelles Vorwort stellt den Zusammenhang zu der Hochwasserkatastrophe her. Flussnatur ist auch kein Sachbuch über Hochwässer. Sondern eher ein ökologisches Lehrbuch, das nicht zuletzt von den ansprechenden Naturschilderungen des Autors lebt. Das aber doch klare Worte findet, wo es um Raubbau, wasserbautechnische Großmannssucht und völlige Blindheit für komplexe natürliche Zusammenhänge geht. Von daher lässt sich aus diesem Buch viel für das Verständnis solcher Hochwasserereignisse lernen. Denn dass Starkregenfälle in einer vom Klimawandel beeinflussten Atmosphäre offensichtlich zunehmen, ist nur eine Seite der Medaille. Die andere ist, dass das vom Himmel stürzende Wasser dann auf Maisfeldern, in betonierten Entwässerungsrinnen, begradigten, kanalisierten Bächen und Flüssen bedeutend schneller abfließt als in einem mäandernden, naturnahen Flusslauf. Hier liegt die Stärke dieses Buches. Die andere sind die erwähnten Naturbeschreibungen, die lehren, hinzuschauen. Reichholf selbst bezieht in den verzwickten Konfliktlagen um den Hochwasserschutz eine erstaunlich abgeklärte Position. Ihm ist klar, dass Flussnatur seit Jahrhunderten gestaltete Natur ist - und die Menschen unter sich ausmachen müssen, wie Flüsse aussehen sollen. "Die Ansprüche aus allen Teilen der Gesellschaft anzuerkennen und fair zu gewichten ist die Zukunftsaufgabe für unseren Umgang mit dem Wasser. Es gehört allen und niemandem allein."
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Armin Nassehi:
Unbehagen.
Theorie der überforderten Gesellschaft.
C.H.Beck, München 2021, 384 Seiten, 26 Euro (D), ISBN 978-3-406-77453-9
Unbehagen und Überforderung in der Moderne sind geläufige Topoi, um nicht zu sagen Klischees der Gesellschaftsdiagnose. Wenn Armin Nassehi nun gleich beide Begriffe auf die Titelseite seines neuen Buches schreibt und sie damit zu den zentralen Bezugspunkten seiner Gesellschaftstheorie macht, tut er das freilich nicht ohne Hintergedanken. Listig bemächtigt sich der Münchner Soziologieprofessor der beiden eingeführten und fest in einer kultur- und zivilisationskritischen Denktradition verwurzelten Begriffe, um sie zu drehen und für seinen eigenen theoretischen Ansatz nutzbar zu machen. Das Unbehagen an und in der Moderne ebenso wie die Überforderung in der modernen Gesellschaft beziehen sich fast immer auf die soziale Dimension, so der Autor. Im Blick steht stets das Individuum, sein Bezug zur Gesellschaft und zu deren Strukturen. Nassehi dreht nun diese Denkrichtung um. Ihm geht es "nicht nur um die Überforderung von handelnden Personen, von Individuen, von Menschen in einer bestehenden Gesellschaft", sondern "auch und vor allem um eine Überforderung gesellschaftlicher Handlungs-, Reaktions- und Gestaltungsmöglichkeiten". Die These ist, "dass die Strukturen und die Form der Gesellschaft sich selbst überfordern". Was sich in Krisen äußert. Des Autors wenig beruhigende Diagnose lautet, dass die Gesellschaft sich offensichtlich in einem permanenten Krisenzustand befindet, schon weil es einen nicht-krisenhaften Zustand nicht (mehr) gibt. Der oft gehörte Appell, nun endlich rauszukommen aus dem ewigen Krisenmodus, führt somit in die Irre. Wie aber kann nun eine Gesellschaft diese Dilemmasituation auflösen? Nassehis Antwort: Die Überforderung ist Problem und Lösung zugleich. Sie kann die Basis für Lösungsperspektiven sein. Gefragt sind "Arrangements zwischen den unterschiedlichen Funktionslogiken" und den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, die Handlungsfähigkeit herstellen und Zielkonflikte bearbeitbar machen. Zum Beispiel, indem man Leute und Logiken zusammenbringt, die üblicherweise nicht zusammenkommen. Oder Lernprozesse durch Rekombination ermöglicht. Das ist getragen von der theoretisch geleiteten Zuversicht, dass eine Gesellschaft, die in ihrer funktionalen Differenzierung ihre Komplexität gesteigert hat, ihr Komplexitätsniveau nochmals zu erhöhen vermag, um die mit ihrer Ausdifferenzierung gewachsenen Probleme in den Griff zu bekommen.
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Andreas Reckwitz, Hartmut Rosa:
Spätmoderne in der Krise.
Was leistet die Gesellschaftstheorie?.
Suhrkamp Wissenschaft, Berlin 2021, 310 Seiten, 28 Euro (D), ISBN 978-3-518-58775-1
Als Glücksfall kann man es wie gesagt sehen, dass beinahe zeitgleich zu dem Buch von Armin Nassehi ein weiteres erscheint, das sich der Gesellschaftstheorie zuwendet: das neue Buch der Soziologen Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa. Ihr gemeinsames Buch hätte auch für sich und ohne das Zusammentreffen mit Nassehi seine Berechtigung und seinen Wert, zumal es die beiden Theorien und ihren jeweiligen theoretischen Hintergrund übersichtlich präsentiert und die beiden Autoren darüber hinaus in einem ausführlichen Gespräch zusammenbringt. Das zeitliche Zusammentreffen der beiden Publikationen ermöglicht es jedoch, Trennlinien in der Soziologie der Gegenwart genauer zu bestimmen. Denn wie Nassehi grenzen sich auch Reckwitz und Rosa klar von anderen theoretischen Ansätzen ab. Und beide bestimmen - wie Nassehi - den Standort ihrer Theorie in einem metatheoretischen Kontext. Sagen also, was Theorie allgemein leisten soll, wo ihr Ansatz konkret verortet ist und wodurch er sich von anderen abgrenzt. Dies ermöglicht Einordnung. Was also leistet die Gesellschaftstheorie? Sie liefere, schreibt Reckwitz, "eine komplexe und systematische Interpretationsweise, um die chaotische Fülle der gesellschaftlichen Tatsachen in ihrer Gesamtheit zu begreifen". Idealerweise ist es das, was eine Theorie leisten kann. Stehen aber mehrere Theorien nebeneinander (und gegeneinander), reproduziert sich das Chaos schnell auf einer höheren Ebene. Dann ist Einordnung gefragt: ein systematischer Vergleich und eine Klärung von Grundlagen und Prämissen. Das leisten Reckwitz und Rosa in ihren ausführlichen, 99 und 125 Seiten umfassenden Buchbeiträgen. Und sie skizzieren einen Weg, wie die soziologische Theorie aus dem Dilemma zwischen system- und handlungsorientierten Ansätzen herauskommen könnte: beide Perspektiven parallel anwenden, sie analytisch trennen, aber zugleich in ihrem Zusammenwirken beschreiben. Multiperspektivität ist das Thema, in der Theorie der Gesellschaft wie in der Gesellschaft selbst.
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Christian Schuldt:
Ausweitung der Kontingenzzone.
Beobachtungen der nächsten Gesellschaft.
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2021, 152 Seiten, 14.80 Euro (D), ISBN 978-3-86393-124-7
In einer Welt in schnellem Wandel, einer Welt, die zunehmend komplex, unbestimmt und uneindeutig erscheint, wird Kontingenz zu einem zentralen Begriff. Kontingenz, das heißt: Es könnte auch anders sein. Kontingenz identifiziert Christian Schuldt, Soziologe, Systemtheoretiker und Studienleiter am Zukunftsinstitut, als bestimmendes Strukturmerkmal der heraufziehenden nächsten Gesellschaft, die sich vor allem durch ihre hochgradige Vernetzung auszeichnet. Das bedeutet, dass es kein Zentrum, keine zentrale Perspektive, keine Deutungshoheit und keine verbindliche, allgemeingültige Interpretation der gesellschaftlichen Wirklichkeit mehr gibt. Anknüpfend an Niklas Luhmanns Systemtheorie und diese weiterführend beschreibt Schuldt die neue Dimension von Kontingenz, die sich in der nächsten Gesellschaft auftut. "Das Prinzip der Kontingenz prägt sämtliche Lebens- und Arbeitswelten, mit unmittelbaren praktischen Konsequenzen für Organisationen und Staaten sowie für jedes einzelne Individuum." Der Krisenmodus werde gleichsam zum Normalzustand, Kontingenz damit zur elementaren Erfahrung der nächsten Gesellschaft. Schuldt bewegt die Frage "Was hält eine Gesellschaft, die heterogen vernetzt und damit auch zunehmend ‚exkludierend‘ ist, überhaupt noch zusammen?". Seine Antwort: Entscheidend für eine Stärkung des sozialen Zusammenhalts werde "ein systemisches Gesellschaftsverständnis". Und das verlangt vor allem einen anderen Umgang mit Komplexität und Kontingenz: verlangt, diese ernst zu nehmen. Das bedeutet, die Gesellschaft als Möglichkeits- und Gestaltungsraum zu begreifen. Und es setzt voraus, mit Komplexität angemessen umgehen zu lernen: sie zuzulassen und aufzubauen statt sie bekämpfen oder reduzieren zu wollen. Es gehe darum, "eine Kultur für Komplexität zu etablieren". Zentral werde: "Kontingenzvertrauen". Dieses ist Voraussetzung dafür, die Erweiterung des Kontingenzraums, die mit dem Anwachsen von Komplexität einhergeht, als Chance begreifen zu lernen. Also "den Verlust an Planbarkeit, Orientierung und Sicherheit nicht allein als Risiko oder Bedrohung zu verstehen, sondern auch als eine historische Möglichkeit zum Entdecken und Gestalten alternativer, lebenswerterer und zukunftsfähigerer Wirklichkeiten", schreibt Schuldt.
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