Spielend nachdenken
Ein Soziodrama ist ein Weg für Gruppen, ihre Geschichten zu erzählen, ihre Welt zu verstehen und Wege der Veränderung zu entdecken. Es ist eine Antwort auf eine gestellte Frage. Eine Reaktion auf eine Situation. Eine Möglichkeit, etwas handelnd zu erzählen und zu verstehen. Kurz: eine spielerische Simulation eines sozialen Systems. Ziel: deutlich zu machen, wie sich ein System anfühlt.
Uwe Reineck, Christoph Buckel und Mirja Li Anderl (im Bild von links nach rechts) sind begeisterte Soziodramatiker. Sie haben 2017 zusammen mit anderen die Soziodrama-Akademie So act! gegründet, um die von Jacob Levy Moreno begründete Methode des szenischen Arbeitens erfahrbar, begreifbar und möglichst vielen "Menschenarbeitern" zugänglich zu machen. In ihrem Praxishandbuch Soziodrama haben sie ihre Erfahrungen zusammengetragen.
Unter einem Psychodrama können sich interessierte Laien zumindest annähernd etwas vorstellen. Aber was genau ist ein Soziodrama?
Uwe: Im Psychodrama arbeiten wir mit der Biografie, an der individuellen Geschichte - zum Beispiel an einem persönlichen Problem. Wir helfen einer Protagonistin, ein Thema, das sie beschäftigt - eine Schwierigkeit mit der Chefin zum Beispiel -, zu externalisieren. Die Menschen aus der Gruppe helfen mit, indem sie Rollen übernehmen, die die Protagonistin vorgibt. Sie inszeniert ihre subjektive Wirklichkeit. Im Soziodrama würde man eher daran arbeiten, wie Hierarchie im Rahmen eines bestimmten Systems das Denken und Handeln bestimmt, welche Kräfte dort wirken und wie man damit umgehen will und kann. Ein Soziodrama ist eine Simulation eines sozialen Systems.
Mirja: Die Menschen, die sich zum Soziodrama treffen, entscheiden, was sie erkunden und worüber sie spielend nachdenken möchten. Auf der Bühne - meistens ist das der freie Platz in der Mitte der Gruppe - schlüpfen die Menschen dann in Rollen und beginnen, in diesen Rollen zu spielen, zu interagieren - da kommen dann schon sehr interessante Dialoge zustande. Diese Rollen können reale oder irreale Personen sein, auch Ideen, Zeitgeister, Sorgen, ein Unternehmensvorstand, Gott, Vorurteile, Utopien, Gedanken, Superman, der Betriebsrat … alles ist möglich. Alle können mit allen in Dialog treten. Das ganze Spiel wird durch die Gruppe bestimmt. Ich möchte noch mit Ron Wieners Worten etwas ergänzen - er hat das Soziodrama als Verfahren entscheidend geprägt: Es ist ein Weg für Gruppen, ihre Geschichten zu erzählen, ihre Welt zu verstehen und verschiedene Wege zu entdecken, wie etwas verändert werden kann. Soziodrama ist stets eine Antwort auf eine gestellte Frage, eine Reaktion auf eine Situation, eine Möglichkeit, etwas handelnd zu erzählen und zu verstehen. Es beginnt also immer mit einer Forschungsfrage.
Kann man sich das so ähnlich wie eine Aufstellung vorstellen? Oder wo liegt der Unterschied?
Christoph: In der Tat werden wir manchmal gefragt, ob Soziodrama so ähnlich sei wie Aufstellungen oder Playback Theatre. Mit beiden Ansätzen gibt es Gemeinsamkeiten und Unterschiede: Genauso wie bei Aufstellungen wird auch beim Soziodrama das ganze soziale System in den Blick genommen. Das Soziodrama ist allerdings viel dynamischer: Die Rollen(spieler) interagieren miteinander, verändern nicht nur ihre Position, sondern auch ihr Verhalten. Die gleiche Rolle kann auch nacheinander von verschiedenen Personen eingenommen werden, um so eine größere Perspektivenvielfalt herzustellen. Die Teilnehmenden spielen mit dem sozialen System und lernen es so besser kennen. Auch zum Playback Theatre gibt es eine große Verwandtschaft. Der größte Unterschied ist hier, dass beim Soziodrama die Teilnehmerinnen Regisseurinnen und Spielerinnen sind.
Was braucht es, um ein Soziodrama in Szene zu setzen? Und ist "in Szene setzen" die passende Formulierung?
Christoph: Es braucht dafür nicht viel. Früher hätten wir gesagt: ein bisschen freie Fläche in einem Raum und eine Gruppe, die daran interessiert ist, an einem Thema zu arbeiten. In den letzten beiden Jahren haben wir festgestellt: Das geht sogar online! Auch hier können Menschen eine gemeinsame Forschungsfrage erarbeiten und in Rollen schlüpfen, um ein Thema besser zu verstehen. Insofern ist "in Szene setzen" auch der richtige Begriff. Eine Szene ist ein Bild in Bewegung, und die Interaktion der Rollen untereinander ist dabei das Spannende. Wie reagiert der Betriebsrat auf den arrogant auftretenden Manager? Oder auch: Was löst die "Ohnmacht" bei einer Gruppe von Klimaaktivistïnnen aus? Neben konkreten Rollen können immer auch abstrakte Rollen verkörpert werden und so erhellende Erkenntnisse liefern.
Wie sieht das nun konkret aus? Wie geht’s los und wie dann weiter?
Mirja: Und zu Beginn steht immer ein Warm-up der Gruppe. Es ist der Moment, wo die Teilnehmenden ihre Aufmerksamkeit auf das Geschehen in der Gruppe richten und beginnen, ein Thema zu finden. Das gelingt, wenn Beziehungen zueinander aufgebaut werden: vom Ich zum Wir. Diesen Prozess gilt es mit Erwärmungsmethoden zu unterstützen. In jeder Erwärmung sollten drei Ziele erreicht werden: die Gruppe vernetzen, ein Thema finden oder ein vorgegebenes konkretisieren und Spiellust erzeugen. Wenn es zum Beispiel um das Zusammenspiel von Betriebsrat und Manager gehen soll, kann das heißen, Szenen zu entwickeln und eine Forschungsfrage, was bei dem Thema spannend wäre für ein Soziodrama.
Uwe: Und auch wenn es nicht immer so aussieht, gibt es sogar eine Struktur, um ein Soziodrama in Szene zu setzen. Nach der gerade beschriebenen Erwärmungsphase erfolgt die Aktionsphase, wo die identifizierten Themen greifbar gemacht werden. Die verschiedenen Elemente für die Forschungsfrage kommen auf die Bühne und treten miteinander in Aktion. Als Leiter schaue ich, dass Dynamik im Spiel bleibt, und versuche - wo notwendig - durch diverse Techniken, zum Beispiel Rollentausch, Focusing oder Stoppen, dem Spiel neue Optionen zu eröffnen.
Mirja: Meine beliebteste Technik ist - wenn das Spielen etwas fortgeschritten ist - die Zeitreise: Wie sieht das Thema in einem Jahr aus? Natürlich kann eine Zeitreise auch in die Vergangenheit führen.
Uwe: Und nach der Aktionsphase erfolgt die Reflexion: Spiel ohne Reflexion wird leicht anarchisch, Reflexion ohne Spiel fad. Soziodrama dagegen verbindet Herz und Hirn, Spiel und Reflexion und wird in der Kombination besonders wirksam. Der soziodramatische Prozess wird mit der Reflexionsphase abgeschlossen. Für die Reflexion gibt es mehrere klassische Fragen beziehungsweise Phasen. Rollenfeedback und Forschungsfragenfeedback sollten dabei, wenn möglich, immer durchgeführt werden.
Im Buch bin ich darüber gestolpert: Was bitte ist ein "Hilfs-Wir"?
Christoph: Im Soziodrama kommen die Mitspielerïnnen immer in einer Rolle auf die Bühne - und zwar nicht in irgendeiner, sondern in einer, die hilft, ein bestimmtes soziales System besser zu verstehen. Sie werden so auf der Bühne zum "Hilfs-Wir". Diese Idee des Sich-gegenseitig-Helfens mit dem Ziel, soziale Dynamiken besser zu begreifen, finden wir total schön. Der Begriff "Hilfs-Wir" ist zugegebenermaßen etwas sperrig. Wir beziehen uns dabei auf Jacob Levy Moreno, den Begründer des Psychodramas (und Soziodramas), der im Psychodrama dem Protagonisten "Hilfs-Iche" zur Seite stellt.
Zitat aus Ihrem Buch: "Im Soziodrama erleben die Mitspielenden, wie sich ein soziales System anfühlt." Wie fühlt sich ein soziales System an? Können Sie das illustrieren?
Christoph: Immer wenn es um soziale Systeme geht, sind automatisch Gefühle im Spiel. Diese Gefühle sind sehr gute Indikatoren dafür, wie ein System tickt, welche Regeln gelten. Wer fühlt sich wohin hingezogen, wer von wem oder was abgestoßen? Was ist die Grundmelodie der gemeinsamen Geschichte? Ist sie eher traurig oder euphorisch oder frustriert? Wenn wir zum Beispiel Teams im Kontext von Organisationsentwicklung typische Szenen ihrer Zusammenarbeit spielen lassen, dann stellen sich schnell auch typische Gefühle ein. Die gilt es dann einerseits zu würdigen, andererseits geben sie wertvolle Hinweise für Lösungsansätze: Etwa wenn eine Gruppe im Soziodrama frustriert und genervt ist - wo finden sich in diesem System auch Rollen, die einen anderen Grundton haben? Wir machen uns so vom Thema ausgehend auf die Suche nach einem Gegenthema.
Worauf beruht die Wirkung des Soziodramas?
Mirja: Wenn die Spielenden sich Rollen wählen und beim Spielen eintauchen, machen sie neue Erfahrungen. Sie entdecken sich ja selbst im Rollentausch auf der Bühne. Sie sprechen und bewegen sich als andere und die Mitspieler begegnen ihnen als etwas oder jemand anderes. In diesen Verfremdungen kommt es dann zu Erkenntnissen, die in einem bloßen Gespräch verborgen bleiben würden. Das Spiel materialisiert nicht nur ein Gespräch, sondern geht darüber hinaus: Gedanken, Argumente, Gefühle, Personen, Hintergründe werden externalisiert und treten in Kommunikationen ein. Aus der Sequenzialität der Worte eines Gesprächs wird eine Gleichzeitigkeit im Spiel durch die Vielzahl der Aktionen und Akteure.
Christoph: Das Medium des Soziodramas ist ja der spielerische Ausdruck - und gleichzeitig erzeugt das Medium eine neue Realität: Das Kunstwerk ist klüger als die Künstler. Nach unseren Erfahrungen werden im Spiel Zusammenhänge offensichtlich, die vorher nicht gesehen wurden. Es gibt Spielerfahrungen und Aha-Momente, die Einsichten vermitteln, die ohne das Soziodrama nicht möglich gewesen wären. Ein Thema wird durchdacht und "durchfühlt", indem es durchgespielt wird.
Uwe: … worauf die Wirkung beruht? Ich glaube, es ist nicht zu unterschätzen, dass Soziodrama einfach verdammt viel Spaß macht. Wer da mal mitgespielt hat, vergisst das nie mehr …
Das Interview haben wir schriftlich geführt.
Zitate
"Ein Soziodrama ist eine Simulation eines sozialen Systems." Christoph Buckel, Uwe Reineck, Mirja Anderl: Spielend nachdenken
"Alle können mit allen in Dialog treten. Das ganze Spiel wird durch die Gruppe bestimmt." Christoph Buckel, Uwe Reineck, Mirja Anderl: Spielend nachdenken
"Die Teilnehmenden spielen mit dem sozialen System und lernen es so besser kennen." Christoph Buckel, Uwe Reineck, Mirja Anderl: Spielend nachdenken
"Soziodrama verbindet Herz und Hirn, Spiel und Reflexion und wird in der Kombination besonders wirksam." Christoph Buckel, Uwe Reineck, Mirja Anderl: Spielend nachdenken
"Immer wenn es um soziale Systeme geht, sind automatisch Gefühle im Spiel." Christoph Buckel, Uwe Reineck, Mirja Anderl: Spielend nachdenken
"Im Spiel werden Zusammenhänge offensichtlich, die vorher nicht gesehen wurden." Christoph Buckel, Uwe Reineck, Mirja Anderl: Spielend nachdenken
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Christoph Buckel, Uwe Reineck, Mirja Anderl: Praxishandbuch Soziodrama. Theorie, Methoden, Anwendung. Theorie und Praxiseinsatz soziodramatischer Methoden. Beltz Verlag, Weinheim und Basel 2021, 327 Seiten, 49.95 Euro (D), ISBN 978-3-407-36747-1
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Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.