Faltung, Triggerpunkte und nonbinäres Denken
In unserer Buchauslese geht es dieses Mal um ein neues Paradigma, das der Komplexitäts- und Chaostheorie entstammt, um eine besondere Art von Ungerechtigkeit, die uns spezifisch als Erkennende und Wissende betrifft, um polarisierende Debatten und Triggerpunkte in unserer Gesellschaft, um Denkfehler und kognitive Verzerrungen, um ein Menschenbild, das unsere Verletzlichkeit in den Mittelpunkt rückt und um die Genderdebatte als Modell für die Überwindung binären Denkens. Hinweis: Ist zu einem Titel eine ausführlichere Rezension erschienen, wird der Link am Ende der Kurzrezension angezeigt.
Anders Levermann:
Die Faltung der Welt.
Wie die Wissenschaft helfen kann, dem Wachstumsdilemma und der Klimakrise zu entkommen.
Ullstein Verlag, Berlin 2023, 272 Seiten, 23.99 Euro (D), ISBN 978-3-550202124
Unsere Welt ist komplexer geworden. Lässt sie sich ohne die Erkenntnisse der Komplexitäts- und Chaosforschung verstehen, ja erklären? Wohl kaum. Es braucht neue Sichtweisen, neue Paradigmen, neue Narrative. Der Potsdamer Klima- und Komplexitätsforscher Anders Levermann schlägt nun ein neues Paradigma jenseits des Wachstumsdenkens vor: das Prinzip der Faltung. Faltung entsteht "immer dort, wo ein sich aktiv entwickelndes System mit Grenzen konfrontiert wird". Werden harte Faltungsgrenzen gesetzt, wird der Wachstumsimpuls gebrochen und in Richtung Erneuerung und Innovation umgelenkt. Anstelle eines unbegrenzten Wachstums in eine Richtung entsteht so ein Wachstum in die Vielfalt, in die Diversität. Levermann beschreibt das so: "Basierend auf der gesellschaftlichen Einsicht der Notwendigkeit wird eine Grenze festgelegt, die nicht überschritten werden darf. Gleichzeitig lässt man der Gesellschaft und der Wirtschaft die Möglichkeit, sich im Rahmen dieser Grenze frei zu bewegen. Dann beginnt eine große Zahl von Akteuren, nach neuen Wegen zu suchen, sie werden kreativ und innovativ. Und das ist genau das, was wir bei der Bewältigung unserer zukünftigen Probleme brauchen." Ein neuer Ansatz, wie die Transformation der Ökonomie und die Bewältigung der Klimakrise zusammengedacht werden können. Und neue Ideen sind notwendig, denn, wie das Buch deutlich macht, reicht eine bloße Reduzierung der Treibhausgase nicht, um die Erderwärmung zu stoppen. Und Verzicht taugt nicht als Handlungsmaxime gegen Umweltzerstörung und Klimawandel.
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Miranda Fricker:
Epistemische Ungerechtigkeit.
Macht und die Ethik des Wissens. Mit einer Einführung von Christine Bratu und Aline Dammel, aus dem Englischen von Antje Korsmeier.
Verlag C.H.Beck, München 2023, 278 Seiten, 34 Euro (D), ISBN 978-3-406-79892-4
Die Philosophin Miranda Fricker entwickelt in ihrem Buch die Idee, dass es eine besondere Art von Ungerechtigkeit gibt, die uns spezifisch als Erkennende und Wissende betrifft: epistemische Ungerechtigkeit. Die Benachteiligung im Zugang zu Wissen und Erkenntnisressourcen ist demnach keine abhängige Variable bestehender Benachteiligung, wie sie etwa Frauen oder Menschen mit Migrationsgeschichte erfahren, sondern eine eigene, systematische Kategorie von Ungerechtigkeit. Fricker unterscheidet dabei zwei Formen: Mit ihrem Konzept der Zeugnisungerechtigkeit beschreibt die Philosophin "die grundlegende Verletzung, nicht als vertrauenswürdige Quelle von Informationen wahrgenommen zu werden, obwohl man eigentlich eine ist und auch als solche erkennbar wäre", wie es in der Einführung heißt. Hermeneutische Ungerechtigkeit beschreibt einen eingeschränkten Zugang zu epistemischen Ressourcen, den intellektuellen Werkzeugen also, mit deren Hilfe wir uns die Welt erschließen. Beiden Formen gemeinsam ist der Zusammenhang von Wissen und Menschenwürde: "Jegliches epistemische Unrecht verletzt jemanden in seiner Eigenschaft als Wissenssubjekt und damit in einer Eigenschaft, die für den Wert eines Menschen wesentlich ist." Ein wegweisendes Buch - und eine folgenreiche Erweiterung der Perspektive.
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Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westheuser:
Triggerpunkte.
Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023, 540 Seiten, 25 Euro (D), ISBN 978-3-518-02984-8
Häufig ist von einer Spaltung der Gesellschaft die Rede. Doch was ist dran an dem Befund, der sich auch in der Alltagswahrnehmung vieler Menschen spiegelt? Eine breit angelegte empirische Studie kommt nun zu einem anderen Ergebnis: Die Einstellungen driften nicht auseinander, bei vielen großen gesellschaftlichen Fragen herrscht überraschend großer Konsens. Die polarisierenden Debatten entzünden sich vielmehr an bestimmten neuralgischen Themen, die die Menschen emotionalisieren: an Triggerpunkten. Triggerpunkte ist der Titel der Studie von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser, die auf einer umfangreichen Materialbasis und einem innovativen Mix unterschiedlicher Methoden basiert. Die Studie ist eine Vermessung und Kartierung des Konfliktraums in Deutschland. Den Kompass bildeten dabei Fragen gesellschaftlicher Ungleichheit, dies nicht nur im Hinblick auf die Einkommensverteilung, sondern auch auf die Verteilung von Lebenschancen, Rechten und Anerkennung. Die Autoren beschreiben die Konflikte in "vier Arenen der Ungleichheit" und finden dort keine Anzeichen einer Polarisierung, aber "eine Intensivierung und affektive Aufladung von Kontroversen". Dieser "Erregungsüberschuss" entzünde sich an bestimmten Themen, manchmal auch nur Begriffen, dem Gendersternchen zum Beispiel, dem Lastenrad oder der Frage eines Tempolimits auf Autobahnen. Solche Begriffe und Themen sind "Triggerpunkte", sie sind "neuralgische Stellen, an denen besonders aufgeladene Konflikte aktiviert werden". Es sind "inflammatorische Detailfragen, an denen ein ansonsten vorhandener Grundkonsens zerbricht". Für die Forscher zeigt dies, "dass es sensible Bereiche des öffentlichen Diskurses gibt, wo Menschen stark und affektiv reagieren". Das Buch bietet reichlich Anstöße zum Nachdenken: über den Charakter von Konflikten und über ihre Entwicklung, etwa im Hinblick auf den Klimawandel, bei dem es sich um einen "Klassenkonflikt im Werden" handele, so die These der Autoren. Und darüber, wie Menschen in Veränderungsprozesse eingebunden werden können, gerade die in den unteren Schichten der Gesellschaft. Nicht zuletzt ist Triggerpunkte ein Glanzstück empirischer soziologischer Forschung.
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Henning Beck:
12 Gesetze der Dummheit.
Denkfehler, die vernünftige Entscheidungen in der Politik und bei uns allen verhindern.
Econ Verlag, Berlin 2023, 256 Seiten, 20 Euro (D), ISBN 978-3-430211024
Kognitive Verzerrungen sind systematische Denkfehler. Sie sind in unserem Denken fest verankert und betreffen uns alle. Das aber hört niemand gern. Obwohl sie grundlegender Natur sind, erfahren kognitive Verzerrungen deshalb nicht die Aufmerksamkeit, die ihnen zukäme. Wohl auch deshalb, weil sie meist in langen Listen oder unübersichtlichen Grafiken präsentiert werden. Der Autor und promovierte Neurowissenschaftler Henning Beck unternimmt nun den Versuch, das Thema in einer narrativen Form zu präsentieren und spürt verbreiteten Denkfehlern in Politik und Gesellschaft nach. Dabei geht es um Fragen wie die, warum wir die Welt immer wieder falsch erklären, uns die Zukunft falsch vorstellen, uns nichts verbieten lassen und uns gerne in unseren Denkweisen bestätigen und nicht hinterfragen wollen. Es ist ein breites Spektrum an Themen, die im Buch angesprochen werden. Ziel ist es allerdings nicht, den Lesern die eigene Dummheit vor Augen zu führen, wie der Titel vielleicht nahelegen könnte. Ziel ist es vielmehr, unser Denken zu verbessern, indem wir uns über die Denkfehler und kognitiven Verzerrungen klar werden, die uns in unserer Denkfähigkeit einschränken. So sei "schon das Wissen über den Bestätigungsfehler ein erster Schritt zu besserem Denken", schreibt Beck mit Blick auf die wohl wichtigste der kognitiven Verzerrungen. Seine zentrale These: "Wir haben die Verantwortung, gut zu denken. Das ist unser evolutionäres Erfolgsmodell."
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Lisz Hirn:
Der überschätzte Mensch.
Anthropologie der Verletzlichkeit.
Zsolnay Verlag, Wien 2023, 128 Seiten, 20 Euro (D), ISBN 978-3-552-07343-2
In der Annahme einer vorgeblichen Besonderheit ist der Mensch einer fatalen Selbstüberschätzung erlegen. Diese Selbstüberschätzung gipfelte in der Dominanz des Geistes über das Fleisch. Eine Philosophin wagt nun die Umkehr. Ihr geht es um eine Neuausrichtung der Philosophie, um ein anderes Menschenbild, das sich nicht mehr an der Annahme einer Besonderheit des Menschen, sondern an seiner Verletzlichkeit orientiert: Wir "bedürfen einer neuen Anthropologie, die sich nicht jenseits, sondern in unserer Verletzlichkeit verortet." Lisz Hirns Darstellung zeigt, wie sehr die unterschiedlichen Denkmuster einander bedingen: die Überschätzung des Menschen, das Ignorieren seiner Verletzlichkeit und nicht zuletzt auch die Dominanz einer technischen Rationalität, die das Instrumentelle und Funktionale in den Vordergrund rückte. Ihr Buch ist ein Aufruf, uns als fragile Wesen neu zu bestimmen.
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Michael Ebmeyer:
Nonbinär ist die Rettung.
Ein Plädoyer für subversives Denken.
Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2023, 85 Seiten, 14 Euro (D), ISBN 978-3-8497-0507-7
Die Genderdebatte hat das Nonbinäre auf die gesellschaftliche Tagesordnung gesetzt und zum Gegenstand einer Emanzipationsbewegung gemacht. Und sie weist zugleich über sich hinaus. Denn sie sei ein Modell für die mögliche Überwindung des binären Schemas. Der Autor Michael Ebmeyer nimmt die Genderdebatte zum Anlass für eine Kritik des binären Denkens. Er wendet das binäre Schema ins Grundsätzliche, rückt das zugrundeliegende Denkmuster ins Blickfeld und stellt es infrage: das Denken in Entweder-oder-Kategorien, in Oppositionen, in Dichotomien, in festen Gegensatzpaaren. Sein Buch ist "ein Plädoyer für das Nonbinäre, für subversives Denken und antiautoritäres Handeln". Er schreibt: "Das binäre Schema, entstanden aus dem Kummer darüber, dass nicht alles eins ist, aus dem Drang, die Vielfalt unter ein Kommando zu zwingen, und aus dem Bedürfnis, die Komplexität der Welt auf ein schlichtes Prinzip zurückzuführen, trägt den Wunsch nach seiner Überwindung immer schon in sich. Tun wir ihm und uns den Gefallen, so gut wir können."
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