Scheiter heiter
Selbstorganisation ist ein schillernder Begriff, und genau besehen ist keineswegs klar, was damit eigentlich gemeint ist. Unterschiedliche Sichtweisen finden sich sowohl beim Verständnis von Selbstorganisation wie bei Konzepten zu ihrer praktischen Umsetzung. Zeit, das Feld abzustecken. Und Menschen zu fragen, die in und mit Selbstorganisation arbeiten. Eine Erkundung. In Folge 20 im Interview: Robert Wiechmann, Berater und Coach für agile Transformation, über Selbstorganisation und Improvisationstheater.
Was ist und was soll Selbstorganisation? Und was braucht es, um sie möglich zu machen? Diese und ein paar weitere Fragen an Robert Wiechmann.
Robert Wiechmann unterstützt als selbständiger Berater und Coach Organisationen bei ihrer agilen Transformation. Seine Motivation ist es, Menschen für eine wert-, menschen- und kundenzentrierte Zusammenarbeit zu begeistern. Zusammen mit seiner Co-Autorin Laura Paradiek hat er das Buch Agile Werte leben geschrieben, das Improvisationstheater als Weg zu mehr Selbstorganisation und besserer Zusammenarbeit vorstellt.
Was muss man wissen, um Selbstorganisation zu verstehen?
Kürzlich durfte ich einen Workshop begleiten, in dem es um Schwierigkeiten mit der Selbstorganisation im Team ging. Die Teilnehmenden wurden gebeten, ihre negativen Erfahrungen und Erlebnisse mit Selbstorganisation einzubringen. Erstaunlich war, dass sich alle in ihren Antworten nur auf ihre eigene Arbeitsorganisation bezogen - zum Beispiel: "Ich plane morgens meinen Tag, doch am Abend habe ich wegen der vielen Meetings oft nichts geschafft …".
Meine Antwort auf die Frage lautet daher, dass Selbstorganisation nicht dasselbe ist wie Selbstmanagement. Selbstmanagement bedeutet, dass eine Person sich selbst "managt", indem sie ihre Fähigkeiten oder Techniken einsetzt, um Aktivitäten zu planen oder gesetzte Ziele zu erreichen. Diese Person klebt sich beispielsweise ein kleines persönliches Kanban auf den Schreibtisch und strukturiert ihren Arbeitstag, indem sie die einzelnen Post-its abarbeitet. Selbstorganisation ist das aber nicht. Die Selbstmanagementkompetenz der einzelnen Teammitglieder ist aber sehr hilfreich für die Selbstorganisation eines Teams.
Was verstehen Sie unter Selbstorganisation?
Bei Selbstorganisation sprechen wir dagegen eher von Teams oder Gruppen von Menschen. Aus systemischer Sicht handelt es sich dabei um autonome Einheiten, die sich selbst steuern oder kontrollieren. Sie sind in der Lage, eigenständig Entscheidungen zu treffen, ihre Arbeitsumgebung zu gestalten oder Prozesse dynamisch anzupassen. Sie organisieren sich also selbst.
Das bedeutet beispielsweise, dass die Entscheidung über die Verwendung eines bestimmten Weiterbildungsbudgets nicht von einer zentralen Stelle, sondern eigenständig von den Mitgliedern eines Teams getroffen wird. Dazu bedarf es eines Prozesses, etwa eines Antrags, aus klar hervorgeht, welchen Sinn und Nutzen die Teilnahme an einer Weiterbildung und welchen Wert diese Investition für das Team hat. Diese Klarheit ist notwendig, damit das Team den Antrag unterstützt. Hier wird deutlich, was Selbstorganisation bedeutet. Denn das Team muss diesen "formalen" Prozess möglicherweise selbst entwickeln. Es muss sich damit auseinandersetzen, wie ein Antrag gestellt wird, wie ein Veto eingelegt werden kann oder wie ein Nein akzeptiert werden kann, ohne einen teaminternen Konflikt auszulösen.
Gibt es weitere Kontexte, in denen Selbstorganisation thematisiert wird und mit welchen unterschiedlichen Bedeutungen?
In meiner täglichen Arbeit mit Menschen und in der Auseinandersetzung mit dem Thema Haltung ist die Bildung von Normen und Regeln wichtig. Diese entstehen aus den Interaktionen der beteiligten Mitglieder - ohne Eingriffe von außen. Dies gilt auch im weiteren Sinne für Politik oder Gesellschaft. Mir fällt dazu auch sofort das Bild der Ameisen ein. Ameisen organisieren sich selbst und sind in der Lage, ihre Versorgungs- oder Transportwege festzulegen oder bei auftretenden Hindernissen innerhalb kürzester Zeit zu ändern. Ein aktuelles Beispiel sind auch die rasant wachsenden künstlichen Intelligenzen, die ihr Verhalten oder ihre Struktur durch die ständige Aufnahme von Daten selbständig anpassen.
Ist der Begriff Selbstorganisation passend und hilfreich?
Ich halte den Begriff für passend. Ergänzend ist für mich aber auch der Begriff Empowerment von zentraler Bedeutung: Menschen in Teams oder Organisationen müssen befähigt und ermächtigt werden, überhaupt autonom und selbstbestimmt handeln zu können. Was meine ich damit? Ich erlebe Selbstorganisation in vielen Organisationen als inhaltsleere Worthülse - luftleere Worte, mehr nicht. Damit Selbstorganisation stattfinden kann, braucht es im Kontext von - sich wandelnden - Organisationen einen Rahmen, es braucht Unterstützung und Handlungsspielräume. Beim Übergang zur Selbstorganisation sind begleitende Führungskräfte erforderlich, um Mitbestimmung zu gewährleisten und kontinuierlich Verantwortung an die Mitarbeitenden zu übertragen. Häufig aber wird Agilität mit Aktionismus gleichgesetzt und Selbstorganisation mit Selbstüberlassung.
Was ist das Gegenteil von Selbstorganisation?
Zurzeit begleite ich ein Transformationsteam von knapp 20 Personen. Dieses Team hat die Aufgabe, über die Zukunft des IT-Geschäftsbereichs nachzudenken und den Wandel aktiv mitzugestalten. Diese Personen arbeiten also nicht im System, sondern am System. Und sie tun dies in einem vorgegebenen Rahmen, der die Selbstorganisation unterstützt und regelt. Rollen, Rhythmen, Arbeitsorganisation oder Verantwortlichkeiten werden im Team selbst organisiert. Entscheidungen werden gemeinschaftlich im Hinblick auf das gemeinsam erarbeitete Zielbild getroffen. Ich finde, das klingt doch sehr selbstorganisiert!
Das Gegenteil sind zentrale Entscheidungen oder Vorgaben, die kaskadenförmig über verschiedene Organisationsebenen hindurch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durchgereicht werden, die weder die Kontrolle über diesen Prozess haben, noch am Entstehungsprozess beteiligt sind.
Wofür wäre Selbstorganisation eine Lösung?
Weiter gedacht kann Selbstorganisation ein Vehikel dafür sein, um in Organisationen eine andere Art des Wirtschaftens und Handelns zu etablieren. Ich glaube, dass viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter menschlicher, nachhaltiger, umweltbewusster und kundenorientierter entscheiden würden, als es die Manager in den Chefetagen heute in vielen Fällen tun.
Das große Potenzial, das durch Selbstorganisation in Organisationen oder ihren Einheiten entstehen kann, wird heutzutage gar nicht genutzt. Selbstorganisation ist in vielen Fällen nicht gewünscht oder nicht erlaubt. Häufig stehen Macht oder Position Einzelner einer Veränderung entgegen - und damit verbunden eine in die Jahre gekommene Haltung des "Das haben wir schon immer so gemacht".
Hat Selbstorganisation Grenzen?
Ich denke da an ein Team, das nicht in der Lage ist, seine Konflikte selbst zu lösen. Da kann man noch so oft appellieren: "Bekommt das in den Griff!". Es wird - selbstorganisiert - nicht funktionieren. Gleiches gilt für Entscheidungsprozesse oder die fehlende Einstellung einer Person, überhaupt in einem Team arbeiten zu wollen. Wichtig ist, dass sich das Team natürlich auch in Konfliktsituationen oder bei unklaren Prozessen selbst organisiert. Es ist ein lebendes System.
Die Frage, die sich Organisationen oder Organisationsentwickler stellen sollten, ist: Was will ich mit einer selbstorganisierten Art und Weise der Zusammenarbeit erreichen? Wo ist Selbstorganisation hilfreich? Wie können wir in unserer bestehenden Unternehmenskultur Räume schaffen, in denen Selbstorganisation möglich wird?
Die Frage gewendet: Werden Selbstorganisation Grenzen gesetzt? Gibt es - in der Gesellschaft, in Unternehmen und anderen Organisationen - Barrieren, Hemmnisse und Restriktionen, die Selbstorganisation blockieren oder einschränken?
Eine Antwort auf diese Frage würde einen eigenen Beitrag füllen - oder ein Buch. Ich denke, einiges ist in meinen bisherigen Antworten bereits angeklungen. Nicht jede Unternehmenskultur profitiert von Selbstorganisation. Gerade in stark hierarchisch geprägten Organisationen ist der Weg zur Selbstorganisation sehr lang und steinig. In vielen Organisationen gibt es keine Freiräume zur Entfaltung. Obwohl ich es für eine wesentliche Aufgabe von Führungspersönlichkeiten halte, Selbstorganisation zu ermöglichen, bleibt im Hinblick auf kurzfristige Gewinnmaximierung oder das Erreichen individueller Ziele oft keine Zeit oder kein Raum, um zu lernen oder Neues auszuprobieren. So aber können die Kompetenzen aller Beteiligten, ob Führungskraft oder Teammitglied, nicht weiterentwickelt werden.
Können Menschen Selbstorganisation?
Der Alltag der meisten Menschen besteht ja genau darin: sich selbst zu organisieren, mit seiner Familie und allem, was damit verbunden ist. Oder anders betrachtet: Unternehmen holen sich in einem langen und teuren Prozess die Besten der Besten - um sie dann in ein Korsett zu zwängen, das ihnen keinen Raum zur Entfaltung lässt. Oder nehmen wir noch einmal das Beispiel des Transformationsteams von eben. Dieses repräsentiert einen Querschnitt der Organisation, es umfasst Abteilungsleiter, Teamleiter, Softwareentwickler und Supportmitarbeiter. Einige sind absolute Spezialisten auf ihrem Fachgebiet: Menschen, die diese eine Sache sehr gut können. Ich erinnere mich noch, wie skeptisch sich alle am Anfang angeschaut haben. Inzwischen ist daraus ein Team geworden, das offen und mutig an die Dinge herangeht, die zu tun sind. Und das sich vieles zutraut, woran die Mitglieder vorher nicht einmal gedacht hätten.
Gewinnt Selbstorganisation an Bedeutung?
Ich denke, aus den bisherigen Antworten geht hervor, dass ich von der Notwendigkeit von Selbstorganisation sehr überzeugt bin. Allein schon deshalb, weil Selbstorganisation eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn und Wert des eigenen Beitrags gibt. Etwas also, das sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gerade aus den nachwachsenden Generationen wünschen. Hier einen organisatorischen Rahmen zu bieten und Raum für individuelle Entwicklung zu geben, ist heute ein wesentlicher Wettbewerbsfaktor.
Woran lässt sich dieser Bedeutungszuwachs festmachen?
Viele Unternehmen machen sich auf den Weg oder haben sich bereits auf den Weg gemacht, mehr Selbstorganisation zuzulassen. Als ich 2008 mit dem Thema in Berührung kam, waren es noch wenige und vor allem in der Softwareentwicklung angesiedelt. Heute gibt es so viele großartige Beispiele, von denen man viel lernen kann.
Sollte es mehr Selbstorganisation geben?
Ich bin sehr dafür und würde es mir wünschen. In selbstorganisierten Teams habe ich die größte Energie gespürt, etwas zu verändern oder zu erreichen.
Welche sind die größten Hemmnisse für mehr Selbstorganisation?
Einige habe ich bereits genannt. Was sich durch alle Erfahrungsberichte zieht, ist das fehlende Vertrauen in die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Blicken wir auf die letzten Jahre zurück, in denen das agile Framework Scrum in vielen Organisationen Einzug gehalten hat. Doch wurde Scrum oft in ein System eingebettet, das es unmöglich machte, von dessen Vorteilen zu profitieren. Man konzentrierte sich auf die mechanische Anwendung und vergaß dabei, dass Scrum eine andere Haltung, andere Werte und Prinzipien voraussetzt. Das Agile Manifest oder Scrum bringen ja ihre eigenen Werte und Prinzipien mit.
Gerade Scrum stellt Vertrauen in den Vordergrund. Damit sich Vertrauen aber entfalten kann, braucht es entsprechende Rahmenbedingungen in der Organisation. Diese sind aber oft nicht gegeben. Zudem fehlen oft die Fähigkeiten und Kenntnisse im Team und in der Organisation, um Selbstorganisation zu etablieren.
Und selbst wenn der Wille da ist, braucht nur jemand aus der Finanzabteilung mit schlechten Quartalszahlen zu drohen, und alle fallen wieder in alte Muster und Verhaltensweisen zurück. Und das Resümee des Managements lautet dann: "Die neue Art der Zusammenarbeit funktioniert nicht bei uns." Das ist dann die Rechtfertigung, nichts zu verändern. Das ist für mich ein großes Hindernis.
Welche Bedeutung hat Selbstorganisation konkret für Sie und Ihre Arbeit?
In meiner Arbeit stehe ich oft im Spannungsfeld zwischen den traditionellen Denkmustern einer Organisation auf der einen Seite und dem "Sich auf den Weg machen" auf der anderen Seite. Wie gerade beschrieben, halten viele Organisationen diese Spannung nicht aus und geben Veränderungen nicht genügend Zeit. Entscheidend ist aber, dass Organisationen das stetige Reagieren auf Veränderung in ihre DNA aufnehmen müssen. Für meine Arbeit steht daher die Wertearbeit an erster Stelle. Meiner Erfahrung nach funktioniert das am besten, wenn man es vorlebt und die Beteiligten aktiv eigene Erfahrungen sammeln.
Welche Frage stellen Sie sich selbst zur Selbstorganisation?
Wenn Organisationen so viele Ressourcen in die Suche nach den besten Talenten investieren, warum schränken sie diese dann so ein, dass sie sich nicht entfalten können? Oder: Was ist die bessere Alternative zur Selbstorganisation?
Lassen Sie uns abschließend noch den Bogen zu Ihrem Buch schlagen. Zwei Aspekte sind es, die neugierig machen: Werte und Improvisationstheater. Zum ersten Punkt: Welche Bedeutung haben Werte für Organisationen? Ganz allgemein und wenn sie sich "auf den Weg machen"?
Jedes Unternehmen und jeder Mensch hat seinen eigenen Wertekompass. Deshalb ist es wichtig, dass sich Mitarbeiter und auch Kunden an gemeinsam definierten Werten orientieren können. Manchmal habe ich jedoch den Eindruck, dass in vielen Organisationen der ökonomische Wert höher gewichtet wird als die Werte. Unternehmerisches Handeln von Führungskräften ist klar auf Erfolg ausgerichtet. Dabei gerät jedoch die Grundlage ihres Handelns aus dem Blick: nämlich die Werte, auf denen die Entscheidungen des Einzelnen und der gesamten Organisation beruhen.
Werte geben Orientierung und sind wesentlich für das Wahrnehmen, Denken und Handeln. Unsere Werte bestimmen, worauf wir achten, wie wir gewichten, interpretieren, entscheiden, miteinander leben oder mit Konflikten umgehen. Werte leiten unser Handeln. Sie geben vor, worauf es uns ankommt, gerade auch in kritischen Situationen. Um Konflikte zu vermeiden, brauchen wir gemeinsame Werte. Werte geben uns Orientierung und Sicherheit. Werte zu etablieren und diese dann zu missachten, zerstört Vertrauen und ist damit ein Hindernis für eine fruchtbare Zusammenarbeit. Für Unternehmen ist es daher ein Fitnesskriterium, Werte im Unternehmen zu leben und danach zu handeln.
Deshalb ist es für Organisationen, die sich auf den Weg machen, sehr wichtig, sich erst einmal darüber klar zu werden, welche Werte leitend sind, um darauf basierend einen gemeinsamen Wertekompass zu erstellen, der Orientierung gibt.
In ihrem Buch ziehen Sie eine Analogie: Die Schauspielerinnen und Schauspieler im Improvisationstheater und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in agilen Unternehmen hätten viel gemeinsam, schreiben Sie. Wo sehen Sie diese Gemeinsamkeiten?
Zunächst einmal glaube ich nicht, dass es das agile Unternehmen gibt. Ich glaube aber, dass es Elemente und Impulse aus dem agilen Kosmos braucht, um für die Herausforderungen der Zukunft gewappnet zu sein. Ich bin davon überzeugt, dass viele der etablierten Modelle, Organisationen zu führen, den Herausforderungen der Zukunft nicht mehr gerecht werden. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei die Anpassungsfähigkeit von Organisationen an unvorhersehbare Ereignisse. So heißt es im agilen Manifest: "Auf Veränderungen zu reagieren, ist wichtiger, als einem Plan zu folgen".
Wie in agilen Teams sind auch im Improvisationstheater Veränderungen willkommen. Und es gilt, schnell darauf zu reagieren. Im Improvisationstheater regiert die Überraschung. Als Improvisationsspieler reagiert man auf Unvorhergesehenes. Diese Analogie habe ich gemeinsam mit Laura Paradiek in unserem Buch Agile Werte leben verarbeitet. Wir sind der festen Überzeugung, dass die Fokussierung auf Werte und Prinzipien in der Zusammenarbeit, gepaart mit dem Talent, sich auf Unvorhergesehenes einzustellen, ein wichtiger Erfolgsfaktor für Unternehmen sein wird. Denn permanenter Wandel ist heute und in Zukunft nicht die Ausnahme, sondern die Regel.
Was kann Improvisationstheater zu mehr Selbstorganisation und Kooperation beitragen?
Ansagen von oben gibt es nicht. Improvisationsspieler entscheiden immer gemeinsam und tragen gemeinsam die Verantwortung für ihr Handeln. Teamarbeit, klare Kommunikation, Offenheit, Experimentierfreude und ein ausgeprägter Spieltrieb sind entscheidend für den Erfolg auf der Bühne. Doch wie machen Improvisationskünstler das? Was auf der Bühne wie ein angeborenes Talent wirkt, ist in Wirklichkeit vor allem das Ergebnis von kontinuierlichem Training, von Ausprobieren und Reflektieren in den Proben.
Wir wollen mit diesem Buch aus Mitarbeitenden keine Schauspieler machen. Aber was man von Improvisationsspielern lernen kann, ist ein ganz praktischer Umgang mit Überraschendem, mit Wandel und Werten. Statt immer nur über Werte zu reden, leben Improvisationsspieler sie, um unbekannte Situationen virtuos zu meistern. Gezielte Spiele und Übungen in den Proben helfen, die gemeinsamen Prinzipien zu verinnerlichen und danach zu handeln.
In Anlehnung an das Improvisationstheater stellen wir im Buch Warm-up-Methoden, Assoziations- und Lockerungsübungen sowie Techniken vor, die sich leicht in unterschiedliche Kontexte integrieren lassen. Was Menschen beim gemeinsamen Improvisieren lernen, lässt sich auf den Unternehmensalltag übertragen, zum Beispiel Teamfähigkeit, Kooperation, Flexibilität, Kreativität, Kundenorientierung und Konfliktbereitschaft.
Wie können Unternehmen Improvisationstheater konkret einsetzen?
Viele Unternehmen nutzen das Improvisationstheater vor allem in Form von Unternehmenstheater. Professionelle Schauspieler begleiten Unternehmen in Veränderungsprozessen, bei der Einführung von Produktinnovationen oder in Personalentwicklungstrainings. Darüber hinaus sind die Einsatzmöglichkeiten vielfältig und reichen von der klassischen Improshow auf der Weihnachtsfeier über ein szenisch interpretiertes Wrap-up am Ende einer Tagung bis hin zum Schlagfertigkeits-Workshop für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Aber darum geht es in unserem Buch nicht. Wir geben Impulse, um mit praktischen Übungen kontinuierlich an der Haltung der Mitarbeitenden zu arbeiten. Mit Improvisationstechniken schaffen wir ein anderes Bewusstsein für das Miteinander.
Wie zum Beispiel?
Lassen Sie mich das an zwei Beispielen erläutern. Das Transformationsteam, von dem ich vorhin gesprochen habe, war aufgefordert, Arbeitsergebnisse anders als gewohnt zu präsentieren. Statt PowerPoint-Folien wurden typische Alltagsszenen improvisiert. Oder die Organisation wurde in einem Rollenspiel als Raumschiff dargestellt. Solche Momente ermöglichen einen ganz anderen Blick auf die Dinge, weil sie Brücken bauen oder Gräben überbrücken. Und weil sie lange in Erinnerung bleiben.
Zweites Beispiel: Fehler machen gehört zum Improvisationstheater dazu. Dort gilt das Prinzip "Scheiter heiter!". Wenn Fehler passieren, üben sich Improvisationsspieler darin, diese nicht so tragisch zu nehmen. Sondern begreifen sie als Chance, daraus etwas Neues zu entwickeln. Genau diese Haltung brauchen wir auch in Organisationen! Und der Einsatz von Methoden aus dem Improvisationstheater fördert sowohl die Fehler- als auch die Lernkultur. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erwerben die Fähigkeit, Unangenehmes offen anzusprechen, sich in ein Team einzubringen, mit Konflikten umzugehen und kontinuierliches Lernen in den Arbeitsalltag zu integrieren. Nicht zuletzt zeichnet sich eine positive Fehlerkultur dadurch aus, dass Fehler offen angesprochen und als Chance zur Verbesserung und als Möglichkeit zum Wachsen begriffen werden.
Das Interview basiert auf einem schriftlich beantworteten Interviewleitfaden mit 15 Fragen, ergänzt mit den Antworten auf einige gezielte Nachfragen.
Zitate
"Selbstorganisation ist nicht dasselbe wie Selbstmanagement." Robert Wiechmann: Scheiter heiter
"Selbstorganisation kann ein Vehikel dafür sein, um in Organisationen eine andere Art des Wirtschaftens und Handelns zu etablieren." Robert Wiechmann: Scheiter heiter
"Menschen in Teams oder Organisationen müssen befähigt und ermächtigt werden, überhaupt autonom und selbstbestimmt handeln zu können." Robert Wiechmann: Scheiter heiter
"Ich erlebe Selbstorganisation in vielen Organisationen als inhaltsleere Worthülse. (…) Häufig wird Agilität mit Aktionismus gleichgesetzt und Selbstorganisation mit Selbstüberlassung." Robert Wiechmann: Scheiter heiter
"Damit Selbstorganisation stattfinden kann, braucht es einen Rahmen, es braucht Unterstützung und Handlungsspielräume." Robert Wiechmann: Scheiter heiter
"Nicht jede Unternehmenskultur profitiert von Selbstorganisation. Gerade in stark hierarchisch geprägten Organisationen ist der Weg zur Selbstorganisation sehr lang und steinig." Robert Wiechmann: Scheiter heiter
"In vielen Organisationen gibt es keine Freiräume zur Entfaltung." Robert Wiechmann: Scheiter heiter
"In selbstorganisierten Teams habe ich die größte Energie gespürt, etwas zu verändern oder zu erreichen." Robert Wiechmann: Scheiter heiter
"Wenn Organisationen so viele Ressourcen in die Suche nach den besten Talenten investieren, warum schränken sie diese dann so ein, dass sie sich nicht entfalten können?" Robert Wiechmann: Scheiter heiter
"Werte geben Orientierung und sind wesentlich für das Wahrnehmen, Denken und Handeln. Unsere Werte bestimmen, worauf wir achten, wie wir gewichten, interpretieren, entscheiden, miteinander leben oder mit Konflikten umgehen. Werte leiten unser Handeln." Robert Wiechmann: Scheiter heiter
"Ansagen von oben gibt es nicht. Improvisationsspieler entscheiden immer gemeinsam und tragen gemeinsam die Verantwortung für ihr Handeln." Robert Wiechmann: Scheiter heiter
"Was man von Improvisationsspielern lernen kann, ist ein ganz praktischer Umgang mit Überraschendem, mit Wandel und Werten." Robert Wiechmann: Scheiter heiter
"Was ist die bessere Alternative zur Selbstorganisation?" Robert Wiechmann: Scheiter heiter
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Zum Buch
Robert Wiechmann, Laura Paradiek: Agile Werte leben. Mit Improvisationstheater zu mehr Selbstorganisation und Zusammenarbeit. dpunkt.verlag, Heidelberg 2020, 268 Seiten, 32.90 Euro (D), ISBN 978-3-864907081
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Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.