Sommerlektüre 2020
Eingepackt: Unsere Buchempfehlungen für den Sommerurlaub
Hier zehn Einladungen zur Horizonterweiterung mit folgenden Autoren: Petra Bock und Maja Göpel mit ihren ambitionierten und höchst lesenswerten Ansätzen, die umfassende Transformation unserer Zeit in einem größeren Zusammenhang zu interpretieren; Hans A. Wüthrich, der Verantwortungsträger in Organisationen ermutigt, sich auf versuchsweises Handeln unter Ungewissheit einzulassen - auf experimentelle Führung; die d.school-Dozenten Kursat Ozenc und Margaret Hagan mit der Einladung, über die Bedeutung von Ritualen in der Arbeit nachzudenken; die Autoren von Future Fit Company mit ihrem inspirierenden Ansatz, Unternehmen ganzheitlich zu begreifen: als Gebilde mit vier Räumen; Joana Breidenbach und Bettina Rollow, die nachdrücklich und überzeugend darauf hinweisen, dass die Entwicklung von Organisationen der Entwicklung der Menschen bedarf, die in ihnen tätig sind; James Lovelock, Erfinder der Gaia-Hypothese, mit seiner kühnen Vision einer Fortsetzung der Evolution mit fortgeschrittenen Mitteln; Armin Nassehi mit seinem beruhigend unaufgeregten Ansatz, die viel gehypte Digitalisierung in einen größeren Rahmen gesellschaftlicher Entwicklung einzuordnen; Geoffrey West mit frappierenden Erkenntnissen über das Wachstum von Systemen und die Grenzen exponentieller Entwicklung; und schließlich ein reflektierendes, philosophisches Buch, das sich aber auch ganz praktisch nutzen lässt - gerade in diesen Sommerferien, die für viele zu Hause oder in der näheren Umgebung stattfinden werden: Warum nicht einmal in heimischer Umgebung dem Leben von Wildtieren nachspüren? Und mit Baptiste Morizot über die gemachten Beobachtungen nachsinnen? In diesem Sinne lässt sich Philosophie der Wildnis als Einladung verstehen: #urlaubdaheim
Petra Bock:
Der entstörte Mensch.
Wie wir uns und die Welt verändern.
Droemer Verlag, München 2020, 320 Seiten, 20 Euro (D), ISBN 978-3-426-27691-4
Das alte, etablierte Denken passt nicht mehr zu unserer Wirklichkeit. Es ist aus der Zeit gefallen. Weil es die Menschen in ihrer Entfaltung behindert. Das ist die These von Petra Bock, die sich in ihrem Buch ausführlich damit beschäftigt, wie verbindliche Leitbilder entstehen, die unsere mentale Welt strukturieren, ja sie im Grunde erst konstruieren. Ihre Antwort: Die Muster unseres Denkens und Fühlens folgen einer Leittheorie, einer "fundamentalen Konstruktion von Sinn und Wirklichkeitserwartung", die grundlegende Annahmen über das Leben und die Interpretation unserer Wirklichkeit trifft. Dieser Rahmen bestimmt, wie Menschen ihre Wirklichkeit sehen und interpretieren. Eine Veränderung der Welt erfordert eine Veränderung dieses Denkrahmens, des Paradigmas. In ihrem Buch umreißt Bock das alte Paradigma und seine Logik, entwirft ein neues, der Zeit angemessenes Leitbild, das an seine Stelle treten soll, und beschreibt den Wandel zu diesem neuen Denken. Statt ums Überleben geht es dabei dieser neuen Denkweise um Entfaltung: "Ich schlage vor, menschliches Denken und Verhalten danach zu beurteilen, ob es Entfaltung auf individueller und kollektiver Ebene ermöglicht oder blockiert, ob es störend oder entstörend wirkt." Den Wandel zu dieser neuen Denkweise konzipiert Bock als "Transformation von Innen", als "Prozess der bewussten Selbstaufklärung". Sein Leben neu auszurichten, ist der Appell dieses Buches: "Die große Veränderung, die wir brauchen, fängt in jedem Einzelnen von uns an." Petra Bock ist ein großartiges Buch gelungen, das souverän aktuelle Zeitströmungen erspürt, verdichtet und in ein schlüssiges Konzept einer großen Transformation gießt.
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Maja Göpel:
Unsere Welt neu denken.
Eine Einladung.
Ullstein Verlag, Berlin 2020, 208 Seiten, 17.99 Euro (D), ISBN 978-3-550200793
Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist Maja Göpel, als sie im März 2019 vor der Bundespressekonferenz die Initiative Scientists for Future vorgestellt hat. Als Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) ist die 1976 geborene Politikökonomin eine der renommiertesten Klimaexperten in Deutschland. Gleichwohl ist sie keine Natur-, sondern eine Gesellschaftswissenschaftlerin mit Schwerpunkt gesellschaftliche Transformation. Ihr besonderes Augenmerk gilt den großen verbindenden Leitbildern, die den Möglichkeitsraum für die Entwicklung von Gesellschaften abstecken und (im Rückblick) diese erst verständlich machen. Mit Blick auf die Zukunft braucht es ein solches Leitbild, wenn die Entwicklung einer Gesellschaft sich nicht im Blindflug vollziehen soll. Das ist das Thema von Maja Göpels erstem populären Sachbuch, mit dem ihr gleich ein großer Wurf gelungen ist. Unaufgeregt, aber mit klarer Haltung und einem sicheren Gespür für die großen Entwicklungslinien und eindrücklichen Bilder erklärt sie den Wandel der Welt, die, so ihre These, heute in einer neuen Realität angekommen ist. Das Verhältnis von Mensch und Natur habe sich grundlegend geändert, so Göpel in Anlehnung an ein Bild des Ökonomen Herman Daly: Wir lebten nicht mehr in einer "leeren Welt", die unserer Expansion offensteht, sondern in einer "vollen Welt", in der Ressourcen und Entwicklungsmöglichkeiten beschränkt sind: "Will die Menschheit nicht ihren eigenen Zusammenbruch herbeiführen, muss sie lernen, in einer vollen Welt zu wirtschaften, auf einem einzigen Planeten, mit begrenzten Ressourcen. Das ist eine neue Realität." Diese neue Realität anzuerkennen bedeutet, dass unsere Gesellschaften ihr Verständnis von Wohlstand und Fortschritt neu verhandeln müssen. Und zwar in einer Weise, die nicht ein Prinzip absolut setzt (siehe Wachstum), nicht das eine gegen das andere ausspielt (Ökologie gehen Soziales), sondern verbindet, was bisher getrennt gedacht wurde. Der Schlüssel dabei ist für die Autorin Gerechtigkeit. Denn "Umweltfragen sind immer Verteilungsfragen, und Verteilungsfragen sind immer Gerechtigkeitsfragen." Die Einladung, die Welt neu zu denken, sollten wir annehmen - jeder für sich und die Gesellschaft für alle.
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Hans A. Wüthrich:
Capriccio.
Ein Plädoyer für die ver-rückte und experimentelle Führung.
Verlage Vahlen und Versus, München und Zürich 2020, 157 Seiten, 22.90 Euro (D), ISBN 978-3-8006-6253-1
Capriccio. In der Kunstgeschichte bezeichnet dieser Begriff all das, was dem Kunstkanon der Zeit widerspricht. Wenn Hans A. Wüthrich diesen Terminus nun in die Managementlehre einführt, zielt er genau auf diese Bedeutung: eine Führung, die sich nicht einfügt in den Kanon der tradierten und geltenden Managementnormen. Die sich dem widersetzt. Es geht also wieder um Wüthrichs Lebensthema, den Musterbruch. Den absichtlichen, lustvollen Regelverstoß, die fantasievolle, spielerische und freche Überschreitung der Normen, für die der Begriff Capriccio in der Kunsttheorie steht. Es geht um "ver-rückte und experimentelle Führung", wobei man den Bindestrich in "ver-rückt" nicht überlesen (nicht: verrückt) und das Augenmerk auf den Begriff "experimentell" legen sollte. "Experimentell" meint, sich auf versuchsweises Handeln unter Ungewissheit einzulassen: auf Lernen unter Realbedingungen statt Best Practice von der Stange, auf versuchsweises Vorgehen in kleinen Schritten statt des Ausrollens eines Masterplans. Der Autor benennt dabei drei Megakompetenzen, die Unternehmen zukunftsfähig machen sollen: erstens das Finden viabler Lösungen, also von Lösungen, die gangbar, passend, brauchbar statt perfekt sind, zweitens die Mobilisierung dezentraler Intelligenz im Sinne von Selbstorganisation und drittens die Erhöhung organisationaler Resilienz als Fähigkeit, mit überraschenden Störungen selbstregulierend umzugehen. Eine solche Führung abseits ausgetretener Pfade fordert die Führenden im besonderen Maße. Denn sie führt ins Unbekannte. Das erfordert Mut und Risikobereitschaft. Dieses sehr lesenswerte Buch gibt Handreichungen für Verantwortliche in Organisationen, die zu dieser Souveränität des Handelns finden wollen. Erschienen vor der Coronakrise vermittelt es dennoch viel Lehrreiches über die derzeitige Lage, deren zentrales Kennzeichen eben Ungewissheit und Nichtwissen sind.
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Kursat Ozenc, Margaret Hagan:
Arbeitsrituale.
50 Wege für mehr Kreativität, bessere Teamarbeit und größere Leistungen.
Verlag Wiley-VCH, Weinheim und Basel (2. Auflage) 2020, 304 Seiten, 29.99 Euro (D), ISBN 978-3-527-51007-8
Methodensammlungen sind beliebt derzeit, insbesondere wenn es um Lockerungsübungen für Meetings, Teamwork und kreatives Arbeiten geht. Da gibt es Warm-ups, Kreativübungen, agile Spiele und anderes mehr. Diese Sammlungen sind meist von Praktikern für Praktiker verfasst. Doch geht der Fokus auf die praktische Umsetzbarkeit meist auf Kosten von Reflexion und Einordnung der Methoden, die so bloße Methoden bleiben. Da ist es ein Glücksfall, wenn nun ein Buch auf den Markt kommt, das darüber hinausgeht. Und genau diesen Hintergrund von Reflexion und Einordnung bietet. Arbeitsrituale heißt es (oder "Rituale für die Arbeit" in der wörtlichen Übersetzung) und bietet einen neuen Zugang zur praktischen Arbeit, sei es die eigene oder die von Teams oder größeren Einheiten, plus 50 praxiserprobte Übungen, präsentiert in verständlichen, nachvollziehbaren und unmittelbar umsetzbaren Anleitungen. Rituale sind Praktiken, die einem Augenblick Bedeutung verleihen. Es sind Handlungen, die einem Muster folgen, einen festen Ablauf haben, in einer bestimmten Situation und mit Absicht und bewusst ausgeführt werden. "Rituale haben eine spezielle Macht, die Menschen verbindet und mit der sie ihrer Welt einen Sinn geben", schreiben Kursat Ozenc und Margaret Hagan, beide Dozenten an der d.school an der Stanford University. Sie fassen den Stand der erst in jüngerer Zeit wieder aufgegriffenen Ritualforschung zusammen und haben selbst zahlreiche Arbeitsrituale gesammelt und erprobt. 50 davon stellen sie, untergliedert in fünf Kategorien, vor: Rituale für Kreativität und Innovation, für Leistung und Flow, für Konflikt und Resilienz, für Zusammenhalt und den Aufbau von Teams sowie für Veränderung und Übergang. Und sie machen deutlich, worin der Unterschied zu reinen Methoden liegt: Arbeitsrituale in diesem Sinne sind keine Instrumente, sie sind nicht nur funktional. Sondern sie ordnen sich ein in ein anderes Verständnis von Arbeit und Zusammenarbeit, das die Autoren so umschreiben: "Wie wäre es, wenn die Kultur von unten nach oben von den Menschen überall in der Organisation festgelegt würde - mit Ritualen & anderen Aktionen, die sie selbst für sich auswählen?"
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Florian Rustler, Nadine Krauss, Jens Springmann, Daniel Barth, Isabela Plambeck:
Future Fit Company.
Individuelle Trainingspläne für Macher, Entscheider und Veränderer.
Murmann | Haufe, Freiburg 2019, 311 Seiten, 29.95 Euro (D), ISBN 978-3-648-12559-5
Wenn sich der Diskursrahmen auch erweitert, in dem die Form der Gestaltung von Unternehmen verhandelt wird, geht es im Kern doch immer um die Frage, wie die Organisation beschaffen sein muss, damit sie auch in Zukunft bestehen kann. Also sie zukunftsfähig, zukunftstauglich, zukunftsbereit zu machen. Futurefit Company nennen das die Autoren des gleichnamigen Buches. Dessen Wert liegt vor allem darin, dass es den Blick nicht auf einen Ansatz, ein Modell verengt, sondern ihn erweitert, indem es unterschiedliche Perspektiven und Ansätze kombiniert und integriert. Denn "eine Organisation ist ein komplexes Gebilde, in dem die Einzelteile in Verbindung stehen und sich gegenseitig beeinflussen." In Anlehnung an die Holakratie und ein Modell von Ken Wilber unterscheiden die Autoren vier Räume einer Organisation: erstens die einzelne Person und deren Denk- und Handlungsweisen, zweitens die Weise, wie die Menschen miteinander interagieren, drittens die Struktur und die Art, wie Entscheidungen getroffen werden, und viertens die operativen Prozesse und Praktiken. Die Herausforderung besteht darin, in diesen vier Räumen gleichzeitig zu agieren. Dafür stellt das Buch auf der Basis von acht grundlegenden Prinzipien Trainingspläne bereit. Die grundlegende Botschaft lautet: "Wir alle müssen Organisationen schaffen, die für die Zukunft bereit sind."
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Joana Breidenbach, Bettina Rollow:
New Work needs Inner Work.
Ein Handbuch für Unternehmen auf dem Weg zur Selbstorganisation.
Verlag Franz Vahlen, München 2019, 152 Seiten, 19.80 Euro (D), ISBN 978-3-8006-6137-4
Wenn es um Selbstorganisation, Agilität und Unternehmenstransformation geht, stehen meist die Erfolgsgeschichten im Vordergrund. Nicht die Fehlschläge, die Misserfolge, die gescheiterten Versuche. Doch auch aus ihnen lässt sich lernen. Joana Breidenbach und Bettina Rollow haben einen maßgeblichen Grund für das Scheitern von Organisationsentwicklungen identifiziert: Diese konzentrieren sich beinahe alle "auf die äußere, sichtbare Dimension des Wandels". Sprich die Veränderung von Rollen, Regeln und Strukturen. Doch jede maßgebliche Veränderung in der Außenwelt brauche eine entsprechende Veränderung im Innenleben der einzelnen Menschen, betonen die Autorinnen. Das bedeutet, die subjektiven Empfindungen und Wahrnehmungen der Mitarbeitenden ins Zentrum der Veränderung zu stellen. Es gilt also beides, "Außen und Innen, objektive Strukturen und subjektive Erfahrungen ins Blickfeld" zu nehmen. Nur wenn beides in einen Zusammenhang gebracht wird, kann Veränderung funktionieren, sagen die beiden Autorinnen. Joana Breidenbach ist Gründerin von betterplace, Bettina Rollow beschäftigt sich mit neuen Organisations- und Führungsformen und hat den Wandel bei betterplace begleitet. Die beiden haben ihr Buch zunächst durch Crowdfunding finanziert, nun hat es Vahlen ins Programm genommen. Zu Recht. Das Buch beleuchtet den blinden Fleck in der Organisationsentwicklung, die oftmals zu sehr auf die äußere Dimension, auf Strukturen und Modelle abstellt. Modelle aber, so die Autorinnen "sind idealtypische Abstraktionen: Alle Modelle sind falsch und einige sind hilfreich."
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James Lovelock:
Novozän.
Das kommende Zeitalter der Hyperintelligenz.
Verlag C.H.Beck, München 2020, 160 Seiten, 18 Euro (D), ISBN 978-3406745683
Die Erde ist ein selbstregulierendes System, sie kann als ein einziger Organismus betrachtet werden - der Planet und das Leben auf ihm sind ein sich gegenseitig beeinflussendes Ganzes. Das ist der Kern der These, die James Lovelock vor 40 Jahren vorgelegt hat. Gaia nannte er dieses komplexeste aller Systeme und erntete dafür neben Zustimmung auch vehementen Widerspruch bis hin zum Esoterikvorwurf. In seinem neuen Buch, seinem vielleicht letzten, wartet der kürzlich 100 Jahre alt gewordene Forscher nun mit einer kaum weniger überraschenden These auf: Er proklamiert den Beginn eines neuen Erdzeitalters. Während die Rede vom Anthropozän als dem ersten menschengemachten Erdzeitalter unter dem Eindruck des Klimawandels allmählich zum Gemeingut wird, ist Lovelock schon eins weiter. Er sieht eine neue Ära im Entstehen, die charakterisiert ist dadurch, dass neue Lebensformen aufkommen, die sich aus Systemen künstlicher Intelligenz selbst entwerfen und erschaffen. Er nennt sie Cyborgs: Wesen, die "bald tausend und schließlich Millionen mal intelligenter sein" werden als wir und die ihre überragende Denkfähigkeit auf die eigene Evolution anwenden. Mit ihnen "steuert unsere Herrschaft als alleinige Versteher des Kosmos rasant ihrem Ende zu" - wir sind im Novozän angekommen, sagt Lovelock. Dies ist nicht die Annahme, dass Maschinen die Macht übernehmen. Es ist auch keine Variante der Singularitätsthese (Ray Kurzweil), die im Grunde nur exponentielles Wachstum extrapoliert. Lovelock hingegen sagt, wir erlebten "eine andere Form von Beschleunigung". Es ist die Fortsetzung der Evolution mit fortgeschrittenen Mitteln. Es ist die Evolution eines Systems, das sich anschickt, so Lovelocks Gedankenexperiment, ohne den Menschen seine Mission zu erfüllen: ein intelligentes Universum zu schaffen. Das ist zweifellos spekulativ, aber kühn gedacht, in sich stringent und keine Minute langweilig.
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Armin Nassehi:
Muster.
Theorie der digitalen Gesellschaft.
C.H.Beck, München 2019, 352 Seiten, 26 Euro (D), ISBN 978-3-406-74024-4
Mit der Digitalisierung gibt es offenkundig ein Problem. Denn vieles, was zeitgeistig als "digital" beschrieben wird, wurzelt genau besehen in längerfristigen Entwicklungen, die in Zeiten zurückreichen, da Computer sich längst noch nicht flächendeckend durchgesetzt hatten oder gar erst als Prototyp oder Denkmodell existierten. Was war zuerst: die Digitalisierung oder der Wandel der Gesellschaft? Das ist das Thema von Armin Nassehis neuem Buch. Er fragt, "für welches Problem die Digitalisierung eine gesellschaftliche Lösung ist". Seine These lautet, "dass die Digitalisierung unmittelbar verwandt ist mit der gesellschaftlichen Struktur". In seinem Buch will Nassehi zeigen, "dass die moderne Gesellschaft bereits vor dem Einsatz digitaler Computertechnologien eine digitale Struktur hatte". Oder anders gesagt: "Das Bezugsproblem der Digitalisierung ist die Komplexität und vor allem die Regelmäßigkeit der Gesellschaft selbst." Während vormoderne Gesellschaften bei aller Vielfalt ihrer Ausdrucksformen doch recht einfach strukturiert waren und sich alles, so Nassehi, in ein Oben-unten-Schema fügte, wird Gesellschaft in der Moderne unübersichtlicher. Unterschiedliche Ordnungsformen existieren nebeneinander. An dieser Komplexität der Gesellschaft setzt die Digitalisierung an - indem sie in deren Unübersichtlichkeit Muster erkennt. Damit liegt, so Nassehis Schluss, "die Digitalität der Gesellschaft in ihrer eigenen Struktur und in ihrer Komplexität begründet".
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Geoffrey West:
Scale.
Die universalen Gesetze des Lebens von Organismen, Städten und Unternehmen.
C.H.Beck Verlag, München 2019, 478 Seiten, 28 Euro (D), ISBN 978-3-406-74191-3
Die Wachstumsfrage polarisiert die ökonomische Debatte. Brauchen Volkswirtschaften Wachstum, um Prosperität und Wohlstand sichern zu können? Oder führt Wachstum nur zu wachsendem Ressourcenverbrauch und steigenden Emissionen und damit zum Kollaps in einer beschränkten Welt? Geoffrey West, Physiker und Vertreter der jungen Komplexitätswissenschaft, hat auf diese Frage eine differenzierte Antwort gefunden. Eine Antwort, die zugleich ein verbreitetes Lebensgefühl unserer Zeit erklären kann: die Wahrnehmung einer wachsenden Beschleunigung der Welt. Kurz zusammengefasst: Wests Buch beschäftigt sich mit Skalierung, also der Frage, wie Systeme sich bei einer Veränderung ihrer Größe verhalten. Dabei gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen Organismen und sozioökonomischen Systemen wie Städten oder Unternehmen. Für Lebewesen gilt: je größer, umso weniger - je größer ein Tier ist, desto weniger Energie braucht es bezogen auf ein Gramm oder Kilogramm seines Körpergewichts. Bei sozioökonomischen Systemen ist es umgekehrt; hier gilt das Prinzip des wachsenden Skalenertrags: je größer, umso mehr. Mit wachsender Größe steigt auch der Bedarf: mehr Energie, mehr Rohstoffe, mehr Nahrung. Unbegrenztes Wachstum bei begrenzten Ressourcen führt aber unweigerlich zu Stagnation und Zusammenbruch - außer eine Innovation leitet einen Paradigmenwechsel ein, der gewissermaßen die Uhr zurückstellt. Da aber die Wachstumskurve weiter ansteigt, muss auch das Innovationstempo wachsen. Innovationen müssen "immer rascher aufeinander folgen, wenn stetiges Wachstum aufrechterhalten werden soll", so West. Die Schlussfolgerung: "Das allgemeine Lebenstempo steigt auch deshalb, weil wir in puncto Innovationen immer schneller werden müssen!" Zugleich steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es nicht klappt mit der richtungsweisenden Innovation, dem Paradigmenwechsel, der das System weiter am Laufen hält. Die Alternative: Wir steigen aus, schlagen uns das unbegrenzte Wachstum aus dem Kopf und suchen nach einem neuen Verständnis von Wohlstand und Fortschritt. "Aber wäre das nicht auch ein bedeutender Paradigmenwechsel?", fragt West am Ende.
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Baptiste Morizot:
Philosophie der Wildnis.
oder Die Kunst, vom Weg abzukommen.
Reclam Verlag, Ditzingen 2020, 191 Seiten, 18 Euro (D), ISBN 978-3-15-011219-9
Es war wohl der Untertitel, der neugierig gemacht hat. Die Kunst, vom Weg abzukommen. Dem hätte eine Enttäuschung folgen müssen, denn darum geht es im Buch nicht. Es geht um die Wildnis, um die Tiere dort, um die Kunst, Spuren zu lesen, und ganz allgemein um unser Verhältnis zu den anderen Lebewesen auf diesem Planeten. Ein Verhältnis, das im Anthropozän neu zu bestimmen ist. Es geht also um eine Philosophie der Wildnis. Faszinierend ist vor allem, wie Baptiste Morizot sich seinem Thema nähert. Das Buch ist selbst eine Spurensuche. Sie führt von der Schilderung von Erlebnissen beim Verfolgen von Fährten immer weiter in die Reflexion: über Wildnis und Wildtiere, mehr noch aber über die Kunst des Spurenlesens und ihre Bedeutung für das Menschsein. Es ist eine Reflexion über Neugier und Suche, über Nichtwissen und Wissenwollen, über das Deuten von Spuren und Zeichen, über Sehen und Gesehenwerden. Spurenlesen ist, so macht Morizot deutlich, der Vorläufer der wissenschaftlichen Methode. Sie ist Ausdruck von Empathie und Perspektivenübernahme - weil der Spurenleser die Perspektive des Tieres übernimmt, dem er folgt. Und sie hat, so die zentrale Hypothese, die Entwicklung des Menschen entscheidend geprägt. Die Spurensuche, so Morizot, hat die Imagination, die Vorstellung von etwas nicht materiell Anwesendem und die Interpretation von Spuren als Zeichen entscheidend vorangebracht. Wer Spuren lesen will, der muss lernen, "das Unsichtbare zu sehen". Und vielleicht, so Morizot kühn, war die Verständigung über die Richtung, in die eine Spur deutet, der erste Diskurs. Ein Buch, das faszinierende Einblicke eröffnet.
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