Elastischer Begriff, vielfältige Formen
Selbstorganisation ist ein schillernder Begriff, und genau besehen ist keineswegs klar, was damit eigentlich gemeint ist. Unterschiedliche Sichtweisen finden sich sowohl beim Verständnis von Selbstorganisation wie bei Konzepten zu ihrer praktischen Umsetzung. Zeit, das Feld abzustecken. Und Menschen zu fragen, die in und mit Selbstorganisation arbeiten. Eine Erkundung. Hier im Interview: Georg Zepke, Organisationsforscher in Wien.
Was ist und was soll Selbstorganisation? Und was braucht es, um sie möglich zu machen? Diese und ein paar weitere Fragen an Georg Zepke.
Georg Zepke (Mag. Dr.) ist Leiter des Instituts für systemische Organisationsforschung in Wien. Er ist tätig als Dozent, Unternehmensberater, Trainer, Organisationswissenschaftler und Verleger und ist Mitherausgeber des Bandes Selbstorganisation konkret! Empirische Befunde zu Möglichkeiten und Grenzen von Agilität und Selbstorganisation, erschienen 2021 in Wien.
Was muss man wissen, um Selbstorganisation zu verstehen?
Das Wesentlichste ist wohl, sich darüber klar zu werden, was man selbst unter Selbstorganisation versteht. Es ist zu beobachten, dass Selbstorganisation durchaus mit unterschiedlichen konzeptionellen Annahmen und mit verschiedenen Hintergründen verwendet wird.
Unter einem systemtheoretischen Gesichtspunkt ist es eine grundlegende Eigenschaft aller sozialen - ja vielleicht sogar aller lebenden - Systeme, nicht zentral steuerbar zu sein, sondern sich nach einer nicht prognostizierbaren Art und Weise selbst laufend anzupassen, Strukturen auszubilden und "autopoietisch" herzustellen - also selbstorganisiert zu sein. Organisationen als soziale Systeme haben damit immer etwas Eigensinniges, Unsteuerbares, etwas Unverfügbares an sich; ein Fachterminus dafür ist autogene Selbstorganisation. Diese selbstreferenzielle, laufend stattfindende Selbstorganisation betrifft vor allem (aber nicht nur) die informelle Dimension von Organisation. Dementsprechend kann man sagen, dass jede (!) Organisation - unabhängig davon, wie stark hierarchisch sie strukturiert ist - grundsätzlich "selbstorganisiert" ist.
Im Gegensatz zu dieser notwendigerweise in jedem System quasi hinter dem Rücken der Akteurïnnen stattfindenden autogenen Selbstorganisation dominieren in der Management- und Beratungscommunity Diskurse zur sogenannten autonomen Selbstorganisation. Hierbei wird mithilfe unterschiedlicher Ansätze und Praktiken explizit und bewusst versucht, hierarchische Entscheidungen, die bislang den Führungskräften vorbehalten waren, verstärkt an Mitarbeitende und selbstgesteuerte Teams an der Basis zu verlagern. Beispiele für diese Praktiken sind etwa agile Teams, Kanban, Scrum, Soziokratie, Holakratie, Teal Organizations, New Work, kollegiale Führung, die Pfirsich-Organisation et cetera. Nicht zuletzt wird unter Selbstorganisation häufig - genau genommen am häufigsten, etwa bei den meisten Google-Einträgen - etwas ganz anderes verstanden: Nämlich nicht ein Organisationsmodell, sondern vielmehr individuelle Arbeitstechniken und Skills im Sinne des Zeit- und Selbstmanagements, mit deren Hilfe Mitarbeiterïnnen ihre Aufgaben eigenständig besser umsetzen sollen.
Weiterhin ist es wichtig, darüber zu reflektieren, welche Werte, Hoffnungen, Ideale sowie explizite, aber auch implizite Überzeugungen mit dem schillernden Wort Selbstorganisation verknüpft sind.
Diese Unterscheidung ist ein interessanter Punkt, weil unter Organisationsentwicklern häufig die erstgenannte Perspektive im Vordergrund steht und die Auffassung, dass ein System nicht nicht-selbstorganisiert sein kann, mit Nachdruck verteidigt wird. In einem unserer Erkundungsinterviews wurde sogar die Frage nach "mehr Selbstorganisation" strikt zurückgewiesen: "Mehr" könne es nicht geben, weil sie Fakt sei - Ausrufezeichen! Kannst du die Unterscheidung zwischen autogener und autonomer Selbstorganisation bitte ein wenig ausführen?
Interessanterweise zeigen sich gerade in sehr hierarchischen Organisationen Formen der autogenen Selbstorganisation besonders deutlich. Etwa indem im Schatten überreglementierter Vorgaben und zentral definierter Engführungen in der täglichen gelebten Praxis eine besonders wirkmächtige Form der informellen Selbstorganisation entsteht, um strukturelle Mängel zu kompensieren und formelle Regelungen zu ergänzen, manchmal auch zu unterlaufen - oftmals, aber nicht immer - zum Wohle des Unternehmens.
Aktuell stoßen Konzepte der autonomen Selbstorganisation, in denen Selbstorganisationsprozesse und Selbststeuerungsprinzipien bewusst für die Gestaltung von Organisation nutzbar gemacht werden, auf hohes Interesse. Solche Versuche sind nicht neu. Bereits im Zuge der Human-Relation-Bewegung in den 1930er-Jahren, vor allem aber in den 60er- und 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurden Erfahrungen mit partizipativen Ansätzen jenseits traditioneller Hierarchien gesammelt. Zum Beispiel teilautonome Arbeitsgruppen, überlappende Vernetzungen zwischen Organisationseinheiten, wie etwa in Rensis Likerts Linking-Pin-Modell, oder auch in der Projektorganisation sowie basisdemokratisch organisierten Bewegungen. Allerdings wurden bei vielen "antihierarchischen" Experimenten zwar verstärkt Kompetenzen in selbstgesteuerte Teams verlagert, zugleich aber unaufhebbare Notwendigkeiten von Organisationsprozessen oftmals zu wenig berücksichtigt - etwa nach zügigen Entscheidungen oder Abstimmungsstrukturen mit anderen Teams. In den aktuellen Selbstorganisationsansätzen wird dagegen meist versucht, den besonderen Charakter von Organisationen als spezifische soziale Systeme mit zu berücksichtigen - etwa indem die gemeinsam getragenen organisationalen Rahmenbedingungen und Arbeitsprinzipien ausformuliert, Entscheidungsformen abgestimmt oder Rollen definiert werden.
Diese Unterscheidung zwischen autogener und autonomer Selbstorganisation leuchtet unmittelbar ein, auf geradezu frappierende Weise, würde ich sagen. Gibt es eine Erklärung, warum sie offenbar kaum rezipiert worden ist?
Diese wichtige begriffliche Schärfung wurde bereits 1998 von Elisabeth Göbel eingebracht. Möglicherweise ist die Begrifflichkeit "autonom" und "autogen" etwas akademisch und nicht selbsterklärend genug für eine breite Nutzung. Nicht vergessen darf man auch, dass das Verständnis von autogener Selbstorganisation, also die systemtheoretische Konzeption, dass Organisationen sich immer - egal ob man das als Managerïn oder Beraterïn dies möchte oder nicht - unsteuerbar, eigensinnig, unvorhersehbar selbst entwickeln, zwar nicht neu ist, aber konsequent durchdacht noch immer einen sehr subversiven Charakter hat. Denn das bedeutet eben, dass soziale Systeme sich nicht nur gegenüber traditionell-hierarchischen Vorgaben, sondern auch gegenüber allen - in der Regel gut gemeinten - Organisationsentwicklungsimpulsen in unprognostizierbarer Weise verhalten und selbstorganisiert in Beziehung setzen. Und das gilt eben auch gegenüber sich auf Selbstorganisation beziehenden Ansätzen wie Agilität, New Work, Soziokratie, Holakratie et cetera.
Noch kurz zu der Beobachtung, dass Werte, Hoffnungen, Ideale und Überzeugungen mit dem Begriff Selbstorganisation verbunden sind. Es ist kein rein deskriptiver Begriff?
Meist ist der Begriff ja positiv aufgeladen und wird als Gegenbegriff zu einer entfremdeten, kühl-hierarchisch reglementierten und reduktionistisch rein auf Effizienz ausgerichteten traditionellen Arbeitsweise verstanden. Hier stehen Humanisierung, Entfaltung von Potenzial sowie Ganzheitlichkeit und sinnerfüllte Tätigkeit im Zentrum, etwa bei Frederic Laloux.
Bei anderen Zugängen steht dagegen der Aspekt des effizienteren und schnelleren Entwickelns von Kundenlösungen - durchaus mit einer neoliberalen Komponente - gegenüber der Humanisierung und Partizipation im Vordergrund. So kommt im Begriff der Agilität die Betonung von flexibler Anpassung und funktionaler Optimierung in der Tradition des Lean Managements zum Ausdruck. Auch wenn meist proklamiert wird, sowohl "ganzheitliche Entfaltung und Humanisierung" als auch "Effizienz in einer volatilen Welt" zur Geltung zu bringen, sollte das Spannungsverhältnis dieser beiden Pole nicht unterschätzt werden.
Besonders wesentlich ist für mich aber, autonome Selbstorganisation nicht zu sehr moralisch aufzuladen und sie nicht als höherwertige Organisationsform, sondern als eine von mehreren Möglichkeiten zu sehen. Nicht für jede Situation ist Selbstorganisation die beste Lösung.
Du hattest gesagt: Wesentlich sei, sich klar zu werden, was man selbst unter Selbstorganisation versteht. Was verstehst du unter Selbstorganisation?
Ich verstehe unter Selbstorganisation sehr pragmatisch und im Sinne der autonomen Selbstorganisation alle Ansätze und Praktiken, die bewusst mit Organisationsmodellen arbeiten und experimentieren, die eine Verlagerung traditioneller, hierarchischer Entscheidungsverantwortung an die Basis im Zentrum haben und dabei versuchen, die besondere Herausforderung von Organisation als spezifisches soziales System mit zu berücksichtigen. Mit dieser pragmatischen Beschreibung können sehr unterschiedliche Ansätze besprechbar gemacht werden, etwa Soziokratie, Holakratie, New Work, agile Ansätze wie Scrum und Kanban und natürlich Ansätze rund um Frederic Laloux’ Buch Reinventing Organizations.
In den unterschiedlichen Ansätzen werden verschiedene konzeptionelle Schwerpunkte und unterschiedliche Praxisimpulse gesetzt: Agilität ist etwa als Reaktion auf eine zu rigide lineare Planungslogik nach dem Wasserfallprinzip im traditionellen Projektmanagement entstanden und hat dazu wichtige neue Instrumente etwa zur Visualisierung einer iterativen, eng mit den Kundenwünschen verknüpften Arbeitsweise entwickelt. Und hat nicht zuletzt auch wertvolle praktische Anregungen zur Optimierung von Besprechungen gegeben, etwa die sorgsame Unterscheidung zwischen kurzen, knackigen Abstimmungsmeetings wie "Daily Stand-ups" und bewusst ausführlichen reflexiven Formaten etwa im Zuge von Retrospektiven.
Ansätze in der Tradition der Soziokratie dagegen setzen vor allem an der Form von Entscheidungen - systemtheoretisch gesehen das Kernelement von Organisationen - an und bringen hier neue Formen der Entscheidungsfindung ein, wie Konsent, konsultative Einzelentscheidung, systemisches Konsensieren et cetera. Mit einer verbreiterten Beteiligung an Entscheidungen wird die zentrale Aufgabe von Führung kollektiviert und kollegialisiert. Statt um Führungskräfte geht es um eine gemeinsam zu tragende "Führungsarbeit".
Ist der Begriff Selbstorganisation passend und hilfreich?
Ja, eigentlich schon. Auch - oder vielleicht gerade -, weil er sehr elastisch ist. Er gibt aber dennoch einen Orientierungsrahmen und zeigt bei aller Offenheit und Unschärfe dennoch die Blickrichtung oder den Entwicklungskorridor an, in welche Richtung neue Organisationskonzepte gedacht werden können.
Wofür wäre Selbstorganisation eine Lösung?
In vielen Organisationen sowohl in der Produktentwicklung, bei Dienstleistungen, aber insbesondere auch im Sozial- und Gesundheitsbereich sowie in anderen Non-Profit-Organisationen wächst der Bedarf, auf interne und externe Veränderungen dynamisch zu reagieren und die Organisation hier rasch adaptieren zu können. Hier verspricht Selbstorganisation häufig ein flexibleres und anpassungsfähigeres Vorgehen.
Viele Organisationen machen auch die Erfahrung, dass eine starre Zielorientierung und eine detailliert ausgearbeitete Projektplanung nicht immer der Königsweg zum unternehmerischen Erfolg sind, da sich Ziele in sehr volatilen, sich rasch wandelnden Umwelten laufend ändern. Bei strenger Zielorientierung wird Unvorhergesehenes leicht übersehen und stattdessen ein möglicherweise gar nicht mehr passendes Ziel gemäß detailliertem Projektstrukturplan weiterverfolgt. Erfolgversprechender und leichtgängiger ist hier oftmals ein experimentierendes, iteratives Vorgehen, bei dem zügig erste Entwürfe und Prototypen, die "good enough to try" sind, entwickelt werden. Anstelle einer detaillierten Vorabplanung erhält die laufende Reflexion und Nachjustierung, etwa im Rahmen von Retrospektiven, einen höheren Stellenwert.
Auch bei der Forschung zu Entrepreneurship zeigte es sich, dass erfolgreiche Unternehmensgründungen in der Regel nicht der Logik von Businessplänen folgen, sondern ein oftmals noch sehr vages Vorhaben rasch, pragmatisch und konkret auf Basis vorhandener Ressourcen, Möglichkeiten, Interessen und Kontakte umsetzen und laufend weiterentwickeln. Das wird etwa im Ansatz der Effectuation betont.
Was ist das Gegenteil von Selbstorganisation?
Klare hierarchische Vorgaben beziehungsweise command and control. Und die Überzeugung, dass alleine durch akribische zentrale Planung den Unwägbarkeiten am Markt angemessen begegnet werden kann.
Das heißt, das Gegenteil ist ganz klar. Was Selbstorganisation ist, hingegen weniger. Da wollte ich noch mal nachfragen: Worin liegt der Vorteil eines "elastischen" Begriffs?
Der Organisationssoziologe Stefan Kühl weist darauf hin, dass in Organisationen sehr häufig mit Begriffen gearbeitet wird, die konzeptuell eigentlich sehr unscharf sind, ja oft auch widersprüchlich verwendet werden. Er hat das vor bereits zwanzig Jahren anhand des inzwischen etwas aus der Mode gekommenen Begriffs der "lernenden Organisation" ausgeführt. Solche "elastischen" Begriffe und Konzepte (wie heute eben auch Selbstorganisation, Agilität et cetera) dienen demnach weniger einem präzisen Verständnis von Phänomenen in der Organisation. Sie sind vielmehr eine Möglichkeit, in einem zunehmend unübersichtlichen und schwer planbaren Organisationsalltag Rationalität im Vorgehen zu suggerieren - und sich gleichzeitig zahlreiche Handlungsoptionen offenzuhalten.
Hier geht es natürlich nicht um einen bewussten oder gar böswilligen Einsatz von unscharfen "elastischen Begriffen". Vielmehr handelt es sich um quasi unbewusste Prozesse, die aber einen versteckten Nutzen haben und aus der Logik der Handlungsfähigkeit der Organisation durchaus sinnvoll und funktional sind.
Hat Selbstorganisation Grenzen? Oder anders gefragt: Werden Selbstorganisation Grenzen gesetzt? Gibt es - in der Gesellschaft, in Unternehmen und anderen Organisationen - Barrieren, Hemmnisse und Restriktionen, die Selbstorganisation blockieren oder einschränken?
Ja, Selbstorganisationsansätze sind nicht für alle Themen, Aufgaben und Fragen gleichermaßen gut geeignet. Bei aller Veränderungs- und Dynamisierungseuphorie, die wir aktuell erleben, gibt es auch Aufgaben, bei denen ein standardisiertes Vorgehen mit genauerer Planung und Dokumentation praktikabler ist. Auch gibt es Organisationen, die nicht unbedingt ein Mehr an Selbstorganisation, sondern vielmehr eine traditionelle Führung benötigen, die klare Orientierung gibt, fachliche Vorgaben macht und den Mitarbeiterïnnen den Rücken stärkt, damit diese sich zufriedenstellend weiterentwickeln.
Können Menschen Selbstorganisation?
Persönlich bin ich davon überzeugt, dass alle Menschen fähig sind, sich selbst zu organisieren. Das beweisen sie tagtäglich im Alltag bei der Bewältigung der zahlreichen Herausforderungen des Lebens. Die meisten Menschen haben das Bedürfnis, eigene Ideen und Potenziale einzubringen und sich kreativ zu entfalten. Allerdings ist es fraglich, ob alle Menschen diese Potenzialentfaltung im Rahmen ihrer Erwerbsarbeit machen wollen und müssen. Oder anders gesagt: ob es nicht auch legitim ist, sich in der Erwerbsarbeit auf eine pragmatische Umsetzung der vorgegebenen Aufgaben zu konzentrieren und die "selbstorganisierten" kreativen und selbstgesteuerten Entfaltungsmöglichkeiten an anderen Orten, etwa bei ehrenamtlicher Arbeit, im Privatleben, im politischen Engagement, bei der Gartenarbeit oder im Rahmen von Hobbys, auszuleben.
Gewinnt Selbstorganisation an Bedeutung?
Ja, sicherlich. Zum einen aufgrund der vielfach beschriebenen Dynamisierungen in vielen Lebens- und Arbeitsbereichen, die mit Globalisierung, Digitalisierung und den vielen Herausforderungen eines Umgangs mit Komplexität einhergehen. Zugleich stehen wir aber auch vor zahlreichen gesellschaftlichen Herausforderungen - wie dem Klimawandel -, deren Bearbeitung letztlich nicht alleine top-down durch politische Vorgaben oder durch das Vertrauen auf den Goodwill von wirtschaftlichen Interessengruppen möglich sein wird, sondern nur durch innovative zivilgesellschaftliche Beteiligungsformate und in stark selbstgesteuerter Weise. Gerade für gesamtgesellschaftliche Herausforderungen werden Experimente mit neuen Organisationsmodellen an Bedeutung gewinnen.
Nicht zuletzt ist Selbstorganisation aber auch ein Modebegriff geworden und gewinnt dadurch an Bedeutung. Wir dürfen nicht vergessen, dass Konzepte, Begriffe - und damit verknüpft auch Beratungsangebote - einer Marktlogik von Angebot und Nachfrage unterworfen sind - verbunden mit der Notwendigkeit, immer wieder etwas völlig Neues anzubieten - oder manchmal auch nur etwas Altes im neuen Gewand.
Sollte es mehr Selbstorganisation geben?
Auch wenn wie gesagt Selbstorganisation nicht in jeder Organisation und für jede Frage die einzige oder die optimale Organisationsweise ist, bin ich mir sicher, dass das Potenzial an Gestaltungsmöglichkeiten von Organisationen noch lange nicht ausgereizt ist. Gerade Instrumente, Tools und Praktiken mit neuen Entscheidungsformaten - etwa bei soziokratischen Modellen, aber auch die zahlreichen Tools und Vorgehensweisen aus der agilen Praxis - machen deutlich, wie viele Möglichkeiten für die Gestaltung von Organisationen vorhanden sind.
Letztlich geht es aber nicht darum, flächendeckend Selbstorganisationsmodelle umzusetzen. Entscheidend ist, dass Organisationen ihr Sensorium verfeinern, für welche Prozesse und Fragen selbstorganisierte Prozesse und kollektivierte Entscheidungs- und Selbststeuerungsverfahren hilfreich sind - und für welche Themen eine zentrale Entscheidungsinstanz die praktikablere Lösung bleibt.
Welche sind die größten Hemmnisse für mehr Selbstorganisation?
Oft werden hier das fehlende Mindset und das unzureichende Commitment von Führungskräften angeführt. Das sind zweifellos wesentliche, aber nicht die einzigen Hemmnisse. Ein weiteres Hemmnis, das zuweilen unterschätzt wird, ist die unrealistische Hoffnung, mithilfe neuer Tools und Konzepte strukturelle Widersprüche oder gar den Entfremdungscharakter, den Arbeit in vielen Bereichen eben mit sich bringt, aufheben zu können. Oft übersehen wird auch, dass durch eine starke Identifikation mit der Arbeit und den Versuch, den "ganzen Menschen" einzubeziehen, auch das Risiko einer radikalisierten Selbstausbeutung und Selbstoptimierung verbunden ist.
Welche Bedeutung hat Selbstorganisation ganz konkret für dich und deine Arbeit?
Als Selbständiger und Unternehmer war und ist für mich individuell Selbstorganisation immer ein zentrales Element gewesen. Ich kenne sowohl den Reiz der hochgradig selbstorganisierten Tätigkeit, aber auch die Herausforderungen und Grenzen des Sich-immer-wieder-selbst-am-Schopf-rausziehen-Müssens sehr gut. Auch in der Arbeit als Organisationswissenschaftler und Berater wird mir deutlich, dass die Sehnsucht nach und das Interesse an neuen, anderen Arbeitsformen wachsen. Hier sehe ich für mich als größte Herausforderung: einerseits zu ermutigen, mit neuen Ansätzen zu experimentieren, Neues zu entwickeln, sich von neuen Praktiken inspirieren zu lassen, ohne diese einfach zu kopieren. Gleichzeitig halte ich es andererseits aber für wichtig, die damit verbundenen Herausforderungen, Grenzen, Spannungsfelder und Risiken nicht aus den Augen zu verlieren. Also auch den Selbstorganisationskonzepten gegenüber eine kritische Haltung zu bewahren.
Das Interview basiert auf einem schriftlich beantworteten Interviewleitfaden mit 15 Fragen, ergänzt mit den Antworten auf einige gezielte Nachfragen.
Quellenangaben
(*) Elisabeth Göbel: Theorie und Gestaltung der Selbstorganisation. Berlin 1998, Duncker & Humblot
(**) Stefan Kühl: Das Regenmacher-Phänomen. Widersprüche und Aberglaube im Konzept der lernenden Organisation. Frankfurt am Main 2000, Campus Verlag
Zitate
"Organisationen als soziale Systeme haben immer etwas Eigensinniges, Unsteuerbares, etwas Unverfügbares an sich." Georg Zepke: Elastischer Begriff, vielfältige Formen
"Nicht für jede Situation ist Selbstorganisation die beste Lösung." Georg Zepke: Elastischer Begriff, vielfältige Formen
"Unter Selbstorganisation verstehe ich sehr pragmatisch und im Sinne der autonomen Selbstorganisation alle Ansätze und Praktiken, die bewusst mit Organisationsmodellen arbeiten und experimentieren, die eine Verlagerung traditioneller, hierarchischer Entscheidungsverantwortung an die Basis im Zentrum haben und dabei versuchen, die besondere Herausforderung von Organisation als spezifisches soziales System mit zu berücksichtigen." Georg Zepke: Elastischer Begriff, vielfältige Formen
"Bei aller Veränderungs- und Dynamisierungseuphorie, die wir aktuell erleben, gibt es auch Aufgaben, bei denen ein standardisiertes Vorgehen mit genauerer Planung und Dokumentation praktikabler ist." Georg Zepke: Elastischer Begriff, vielfältige Formen
"Ich bin davon überzeugt, dass alle Menschen fähig sind, sich selbst zu organisieren. Das beweisen sie tagtäglich im Alltag bei der Bewältigung der zahlreichen Herausforderungen des Lebens." Georg Zepke: Elastischer Begriff, vielfältige Formen
"Gerade für gesamtgesellschaftliche Herausforderungen werden Experimente mit neuen Organisationsmodellen an Bedeutung gewinnen." Georg Zepke: Elastischer Begriff, vielfältige Formen
"Auch wenn Selbstorganisation nicht in jeder Organisation und für jede Frage die einzige oder die optimale Organisationsweise ist, bin ich mir sicher, dass das Potenzial an Gestaltungsmöglichkeiten von Organisationen noch lange nicht ausgereizt ist." Georg Zepke: Elastischer Begriff, vielfältige Formen
"Entscheidend ist, dass Organisationen ihr Sensorium verfeinern, für welche Prozesse und Fragen selbstorganisierte Prozesse und kollektivierte Entscheidungs- und Selbststeuerungsverfahren hilfreich sind - und für welche Themen eine zentrale Entscheidungsinstanz die praktikablere Lösung bleibt." Georg Zepke: Elastischer Begriff, vielfältige Formen
"Die Sehnsucht nach und das Interesse an neuen, anderen Arbeitsformen wachsen." Georg Zepke: Elastischer Begriff, vielfältige Formen
changeX 19.03.2022. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
Artikeltags
Ausgewählte Beiträge zum Thema
Selbstorganisation - eine Erkundung | Übersicht zur Übersicht über die Beiträge
Selbstorganisation - eine Erkundung | 14 Boris Gloger zum Interview
Selbstorganisation - eine Erkundung | 10 Swantje Allmers zum Interview
Selbstorganisation - eine Erkundung | 9 Gebhard Borck zum Interview
Zum Buch
Thomas Schweinschwaller, Georg Zepke: Selbstorganisation konkret!. Empirische Befunde zu Möglichkeiten und Grenzen von Agilität und Selbstorganisation. Texte zur Systemischen Organisationsforschung, Wien 2021, 204 Seiten, 19.99 Euro (D), ISBN 978-3-950416022
Buch bestellen bei
Osiander
genialokal
Amazon
Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.
weitere Artikel des Autors
Die changeX-Buchumschau im Spätherbst 2024 zur Sammelrezension
Max Senges über Peer Learning und Entrepreneurship - ein Interview zum Interview
Hidden Potential von Adam Grant - eine Vertiefung zum Report