Schritt für Schritt in die neue Welt
Selbstorganisation ist ein schillernder Begriff, und genau besehen ist keineswegs klar, was damit eigentlich gemeint ist. Unterschiedliche Sichtweisen finden sich sowohl beim Verständnis von Selbstorganisation wie bei Konzepten zu ihrer praktischen Umsetzung. Zeit, das Feld abzustecken. Und Menschen zu fragen, die in und mit Selbstorganisation arbeiten. Eine Erkundung. Hier im Interview: René Schneider, Servant Leader bei DB Systel in Berlin.
Was ist und was soll Selbstorganisation? Und was braucht es, um sie möglich zu machen? Diese und ein paar weitere Fragen an René Schneider.
René Schneider ist Servant Leader für mehrere hundert Mitarbeitende in der Produktion der DB Systel GmbH. Das Unternehmen innerhalb der Deutschen Bahn hat in den letzten Jahren ihre klassischen traditionellen Strukturen in ein agiles und selbstorganisiertes Unternehmen ohne Hierarchien gewandelt. René Schneider hat diese Transformation maßgeblich begleitet und gestaltet - und darüber ein dickes Buch geschrieben: Selbstorganisation und Agilität in Großunternehmen. Servant Leadership beschreibt Führung als Dienst am Geführten, als dienendes Führen.
Im Interview erläutert René Schneider sein Verständnis von Selbstorganisation und Führung und er berichtet über die Transformation bei DB Systel. Das bedeutet die Einführung von Selbstorganisation in einem Großunternehmen, also die Skalierung von kleinen auf wirklich große Einheiten. Weil das ein extrem spannendes Thema ist, gibt das (dieses Mal telefonisch geführte) Interview ausreichend Raum zur Erörterung dieses Transformationprozesses. Es sind also gewissermaßen zwei Interviews in einem: das Erkundungsinterview mit den standardisierten Fragen plus ein zweiter Teil mit gezielten Nachfragen zum Thema Selbstorganisation in Großunternehmen. Da die beiden Teile aufeinander aufbauen, erschien eine Teilung in zwei Folgen nicht als sinnvoll. Deshalb hier als ein - sehr - langes Interview.
Die Eingangsfrage: Was muss man wissen, um Selbstorganisation zu verstehen?
Selbstorganisation im Unternehmenskontext steht in einem deutlichen Kontrast zur Führungsstruktur eines klassisch organisierten Unternehmens, wo quasi der Chef vorgibt, wie das Ziel erreicht und welcher Weg dafür eingeschlagen werden soll. In der Selbstorganisation hingegen agieren die Mitarbeitenden wie ihr eigener Chef. Indem sie gemeinsam mit ihren Kollegen Ergebnisse erzielen und sich dabei an den vorgegebenen Rahmenbedingungen orientieren.
Was verstehen Sie unter Selbstorganisation?
Selbstorganisation bedeutet, dass die Mitarbeitenden eigenständig darüber nachdenken, wie sie die gesetzten Ziele erreichen können, welche Rahmenbedingungen gegeben sind und wie sie ihre Arbeit organisieren. Sie überlegen selbst, welche Werkzeuge und Fähigkeiten erforderlich sind, wie viel Zeit benötigt wird, wie die Zusammenarbeit mit anderen Kollegen oder Teams gestaltet werden muss und ob zusätzliche Ressourcen erforderlich sind. Da oft mehrere Aufgaben gleichzeitig zu bewältigen sind, ist auch eine Priorisierung erforderlich. Also, das Wichtigste oder Dringendste in den Fokus zu nehmen.
Das zum Kontext Organisationen. Gibt es weitere Kontexte, in denen Selbstorganisation thematisiert wird und mit welchen unterschiedlichen Bedeutungen?
Im alltäglichen Leben beginnt die Selbstorganisation, wenn wir das Elternhaus verlassen und eigenverantwortlich für unseren Lebensunterhalt sorgen. Dieser erste Schritt markiert den Beginn des Lernprozesses, auf eigenen Füßen zu stehen und selbständig die eigenen Angelegenheiten zu bewältigen.
Ist der Begriff Selbstorganisation passend und hilfreich?
Selbstorganisation ist ein Begriff, der nicht wirklich hilfreich ist. Viele sagen, "Ich bin ja eh schon selbstorganisiert!". Sie denken, ich mache das im privaten Leben, also geht das im Job auch. Das ist aber nicht hilfreich, weil es die Mitarbeitenden dazu bringt, überheblich zu sein. Diese Überheblichkeit führt dazu, dass viele Mitarbeitende überfordert sind. Denn im beruflichen Kontext gestaltet sich die Selbstorganisation komplexer. Hier müssen viele unterschiedliche Aspekte berücksichtigt werden, und das macht die Sache deutlich anspruchsvoller. Deshalb ist der Begriff der Selbstorganisation im beruflichen Kontext ein bisschen fehlleitend, weil er nicht die Tragweite vermittelt, die dieses Thema mitbringt.
Gibt es einen anderen Begriff, der sich besser eignet?
Ich weiß es nicht. Keine Ahnung. Darüber muss ich nachdenken. Vielleicht lässt sich ein alternativer Begriff finden, der nicht die Schwere besitzt, die bei Selbstorganisation mitschwingt.
Wofür wäre Selbstorganisation eine Lösung?
Letzten Endes sind es immer Menschen, die Leistungen erbringen. Grundsätzlich gibt es zwei Richtungen: Entweder ist da jemand, der Anweisungen gibt, oder der Mitarbeitende weiß selbst, was zu tun ist und handelt eigenverantwortlich. Persönlich favorisiere ich Selbstorganisation, denn die Mitarbeitenden sind intelligent genug, um eigenständig Entscheidungen zu treffen und zu verstehen, wie das Unternehmen funktioniert.
Es wird niemals effektiv sein, wenn eine einzelne intelligente Person zehn, zwanzig oder dreißig anderen intelligenten Menschen sagt, was sie zu tun haben. In der Selbstorganisation sind es diese zehn, zwanzig oder dreißig Individuen, die eigene Überlegungen anstellen, sich selbst organisieren und gemeinsam ihr Ziel erreichen. Die Menschen, die die tägliche Arbeit verrichten, sind die Experten für ihr Geschäft. Sie haben in der Regel bessere Ideen zur Lösung von Problemen. Diese Lösungen sind erfahrungsgemäß näher an der Praxis und wesentlich schneller und effizienter umzusetzen. Daher bin ich der Ansicht, dass Selbstorganisation in jedem beruflichen Kontext funktionieren kann.
Was ist das Gegenteil von Selbstorganisation?
Fremdsteuerung. Dass also von außen Ziele vorgegeben werden und es den Leuten vorgeschrieben wird, wie sie zu arbeiten haben. Man macht sich also über die Lösung und Lösungsfindung nicht selbst Gedanken, sondern wird fremdgesteuert und regelmäßig kontrolliert. Klassische hierarchische Führungssysteme sind das Gegenteil von Selbstorganisation.
Hat Selbstorganisation Grenzen?
Ja, der Begriff bringt Mitarbeitende dazu zu glauben, sie seien selbstorganisiert, obwohl sie möglicherweise nicht genau verstehen, worum es dabei geht. Weil die Menschen nicht über alle Aspekte nachdenken, die sie vielleicht berücksichtigen sollten. Durch die hohe Komplexität eines Unternehmens fehlt es häufig an einem unternehmensübergreifenden Blick. Eine zweite Grenze ist, dass Mitarbeitende oder Teams möglicherweise ein anderes Verständnis von Themen haben als das Unternehmen. Dann ist die Frage, welches Verständnis zählt. In einem Wirtschaftsunternehmen, das wirtschaftliche Ziele verfolgt, müssen bestimmte Rahmenbedingungen erfüllt werden. Wenn ein selbstorganisiertes Team denkt, dass der Weg des Unternehmens nicht richtig ist und zu wirtschaftlichen Nachteilen führt, stößt es an eine Grenze. Eine weitere Herausforderung liegt darin, dass Mitarbeitende und Führungskräfte an Grenzen ihrer persönlichen Weiterentwicklung stoßen können. Selbstorganisation ist immer auch ein Impuls, sich weiterzuentwickeln. Das kann zu Überforderung oder zu Konflikten führen.
Selbstorganisation ist ein System, das sich kontinuierlich weiterentwickelt. Dieser Fortschritt hängt davon ab, inwieweit Mitarbeitende bereit sind, über den Tellerrand zu schauen. Selbstorganisierte Teamstrukturen schwimmen jedoch schnell in ihrem eigenen Kontext. Daher ist es entscheidend, dass selbstorganisierte Teams regelmäßig - in unserem Fall halbjährlich - eine externe Reflexion durchführen und von außen Impulse und Lösungen erhalten, an die sie vielleicht gar nicht gedacht haben.
Kurz gesagt: Ja, Selbstorganisation hat Grenzen. Mitarbeitende können überfordert sein, unterschiedliche Interessen können kollidieren. Und externe Impulse sind notwendig, um kontinuierliche Entwicklung zu gewährleisten.
Wenn man die Frage umdreht. Werden Selbstorganisation Grenzen gesetzt? Gibt es in der Gesellschaft, in Unternehmen, in Organisationen Barrieren, Hemmnisse oder Restriktionen, die Selbstorganisation blockieren oder einschränken?
Es gibt verschiedene Perspektiven. Das Banalste sind die verbreiteten Vorbehalte gegenüber Selbstorganisation. Weil viele Manager in klassisch gestalteten Unternehmen Selbstorganisation nicht verstehen, sind sie schnell bei der Hand zu behaupten, dass Selbstorganisation nicht funktioniere. Ein weiterer Aspekt betrifft persönliche Grenzen: Viele Manager oder Entscheider sind gegen Selbstorganisation eingestellt, weil sie ihre eigenen Interessen verletzt sehen. Sie befürchten Kontrollverlust, Machtverlust und einen Verlust an Wirksamkeit, wenn die Teams selbstorganisiert arbeiten. Das ist aber nicht der Fall. Neben dem Unverständnis für Selbstorganisation und dem Eigeninteresse sind es solche Mythen, die die Akzeptanz von Selbstorganisation behindern.
Können Menschen Selbstorganisation?
Im privaten Kontext: Ja. Entsprechend wurden wir erzogen, entsprechend verhalten wir uns, und so funktioniert auch das gesellschaftliche und staatliche System. Im beruflichen Kontext aber ist die klare Antwort: Nein. Ohne Guidance nein! Bei der Einführung von Selbstorganisation ist es entscheidend, jeden Mitarbeitenden zu unterstützen, also Orientierung und schrittweise Begleitung zu bieten. Unsere Erfahrung zeigt, dass ein Team etwa zwei Jahre benötigt, um wirklich selbstorganisiert zu arbeiten. Das ist eine wichtige Erkenntnis aus unserer eigenen Transformation.
Gewinnt Selbstorganisation an Bedeutung?
Absolut. Aktuell befinden wir uns vor einer Zeitenwende. Selbstorganisation wird sich durchsetzen, wenn traditionelle Hierarchien, Command & Control, transaktionale Führung und so weiter an ihre Grenzen stoßen. Unser Unternehmen hatte keine andere Wahl, als grundlegende Veränderungen vorzunehmen - andernfalls wären wir gescheitert. Selbstorganisation war unser Ausweg aus der Sackgasse. Wenn man aber die gesamte Wirtschaft und Industrie betrachtet, ist der Druck, diesen Schritt zu gehen, oft noch nicht groß genug. Mit der zunehmenden Entwicklung des Marktes, mit steigender Volatilität, Geschwindigkeit und Innovation werden jedoch immer mehr Branchen und Industrien genau in diesen Engpass kommen. Sie werden nach Wegen suchen müssen, ihre Unternehmensstrukturen flexibler zu gestalten. Das wird die Diskussion über Selbstorganisation vorantreiben.
Die entscheidende Frage lautet: Ist Selbstorganisation die nächste Generation der Unternehmensstruktur? Davon bin ich überzeugt. Aus einem einfachen Grund: Wenn man in beiden Welten gearbeitet hat wie ich, dann wird man die Effizienz und Effektivität des Agierens und den Spaß mit selbstorganisiertem Arbeiten nicht mehr missen wollen. Ich würde nie wieder in einer alten Organisationsstruktur arbeiten wollen. Für mich gibt es keinen Weg zurück.
Woran lässt sich festmachen, dass Selbstorganisation an Bedeutung gewinnt?
Was unser Unternehmen betrifft, an zwei Punkten: Zum einen haben wir fünfeinhalbtausend Mitarbeitende und achthundert Kunden, die in den unterschiedlichsten Geschäftsbereichen tätig sind und die alle unterschiedliche Anforderungen stellen. Damit wachsen die Anforderungen im Hinblick auf Flexibilität. Die Konsequenz ist: Man kann ein Unternehmen nicht mehr zentral steuern, indem eine Richtung und ein Standard vorgegeben wird. Sondern man muss immer individueller agieren. Das erfordert eine dezentrale Struktur, die spezifisch auf die unterschiedlichen Anforderungen reagiert. Die Unternehmensleitung gibt zwar strategische und wirtschaftliche Ziele vor, die konkrete Umsetzung für die jeweiligen Kunden erfolgt jedoch dezentral. Die Entscheidungen liegen in den Händen derjenigen, die direkt mit dem jeweiligen Kunden interagieren. Durch diese dezentrale Entscheidungsfindung wird die Organisation erheblich flexibler und schneller. Das ist ein zentraler Bestandteil ihres Erfolgs.
Und der zweite Punkt?
Wir sind in einem Großkonzern unterwegs. Vor der Transformation rangierten wir in puncto Mitarbeiterzufriedenheit ungefähr in der Mitte von achthundert Einzelgesellschaften. Nach der Umstrukturierung waren wir eindeutig das Unternehmen mit der höchsten Mitarbeiterzufriedenheit. Einfach deshalb, weil unsere Mitarbeitenden ihre eigenen Chefs sind und ihnen das Vertrauen entgegengebracht wird, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Dies führt zu einer höheren Zufriedenheit. Das i-Tüpfelchen ist: Wir sind nicht nur flexibler geworden, indem wir uns schneller auf Kunden ausrichten, sondern wir haben unsere Effizienz um fast fünfzig Prozent gesteigert. Nicht, weil unsere Leute nun mehr oder länger arbeiten würden. Der Grund liegt darin, dass die Entscheidungen individuell und dezentral getroffen werden. Das steigert die Effizienz und zugleich die Zufriedenheit. Mit der gleichen Belegschaft und der gleichen Organisation fast fünfzig Prozent mehr zu erwirtschaften, das ist ein signifikanter Unterschied, den ein traditionelles Management in einer klassischen Organisationsstruktur nicht erreichen könnte. Es ist ein systematisch anderer Ansatz, der diese Ergebnisse entstehen lässt. Weil dezentral entschieden wird und die Mitarbeitenden glücklicher sind.
Beeindruckend ist auch die geringe Fluktuation: Während klassische Werte bei 2,7 bis 3 Prozent pro Jahr liegen, beträgt sie bei uns unter einem Prozent. Dies zeigt, dass unsere Leute gerne bei uns sind und bleiben möchten.
Das kann man fast schon als Antwort auf die nächste Frage nehmen: Sollte es mehr Selbstorganisation geben?
Definitiv. Man muss nicht gleich im großen Rahmen beginnen. Ein Abteilungsleiter oder Fachbereichsleiter zum Beispiel, der für mehrere Abteilungen verantwortlich ist, kann in seinem Verantwortungsbereich schrittweise anfangen. Der erste Schritt ist, dass der Chef, der für diese Organisationseinheit verantwortlich ist, das Ziel setzt und fragt: "Wie würdet ihr denn dieses Ziel erreichen?" Es gilt, die Mitarbeitenden zu ermutigen, selbst Ideen zu entwickeln. Sie sind Experten ihrer Arbeit. Ihre Ideen sind oft besser als die eines Abteilungsleiters, der vielleicht früher Experte auf seinem Gebiet war. Dieser Ansatz ermöglicht es, Dinge schnell voranzutreiben. So ist diese neue Welt entstanden.
Welches sind die größten Hemmnisse für mehr Selbstorganisation?
Das größte Hindernis für mehr Selbstorganisation besteht darin, dass die Mitarbeitenden damit anfangs überfordert sind. Denn sie müssen sich nun selbst Gedanken machen, was zu tun ist, in welcher Qualität und bis wann, anstatt klare Anweisungen zu erhalten. Dies erfordert eine kognitive Anstrengung und eine intensive Abstimmung mit Teamkollegen und anderen Teams. Dennoch zeigt sich, dass eigene Ideen oft effektiver sind, um Ziele zu erreichen, als wenn man genau vorgegeben bekommt, was zu tun ist.
Welche Bedeutung hat Selbstorganisation ganz konkret für Sie und Ihre Arbeit?
Für mich ist Selbstorganisation mittlerweile unverzichtbar geworden. In meiner Rolle, die in der alten Sprache als "erste Unterstellungsebene der Geschäftsführung" bezeichnet wird, habe ich die Verantwortung für 350 Mitarbeitende. Meine Hauptaufgabe besteht darin, die Digitalisierung des Bahnkonzerns voranzutreiben. Die von uns entwickelten Produkte oder Services dienen also dazu, den Bahnkonzern bei seiner digitalen Transformation zu unterstützen. Dies beinhaltet Themen wie das Internet der Dinge (IoT), künstliche Intelligenz (KI), Datenmanagement, ChatGPT, API-Management und alles, was mit IT-Entwicklungstools zu tun hat. Unsere Kunden sind die rund 800 Einzelunternehmen im Konzern, von denen jedes einzelne wie gesagt ganz unterschiedliche Anforderungen hat.
Ich habe gar nicht die Möglichkeit, aus meiner - in Anführungszeichen - zentralen Rolle heraus für alle 350 Leute genau vorzugeben, in welche Richtung sie gehen sollen. Ich kann lediglich einen strategischen Rahmen vorgeben, wirtschaftliche Ziele setzen und Dinge wie Compliance und strategische Leitplanken als Rahmenbedingung vorgeben. Wie jedes Team die Anforderungen für ihre jeweiligen Kunden erfüllt, ist ihnen überlassen. Meine Aufgabe besteht darin, die Commitments der zirka 35 Teams einzufordern. Das ist meine Rolle. Das Zweite ist, ihnen Unterstützung anzubieten. Also was kann ich aus meiner Rolle heraus tun, um ihnen ihre Arbeit so einfach wie möglich zu machen: Probleme wegräumen, Eskalation unterstützen und Impulse geben, die richtigen Werkzeuge einzusetzen und die richtige Weiterbildung zu absolvieren. Das ist meine Aufgabe als Servant Leader: Die Teammitglieder in ihrer Verantwortung zu unterstützen, sodass sie ihre Aufträge beim Kunden möglichst gut erfüllen können.
An alle klassischen Manager gerichtet, die fürchten, an Wirksamkeit, an Kontrolle zu verlieren: In der alten Welt könnte ich nur ungefähr 30, 40 Prozent von dem leisten, was ich jetzt leiste. Es ist wie ein Knoten, der platzt. Das Empowerment der Mitarbeitenden macht sie weitaus schlagkräftiger, und ich kann in meiner Rolle viel wirkungsvoller agieren als zuvor. Das ist es, was Selbstorganisation ermöglicht: Wir schaffen mehr mit der gleichen Kapazität. Im Vergleich zur alten Welt ist die neue Welt definitiv herausfordernder. Aber man schafft mehr, hat mehr Spaß und dementsprechend auch mehr Wirksamkeit.
Letzte Frage: Welche Frage stellen Sie sich selbst zur Selbstorganisation?
Wie gehen wir mit Überforderung um? Wir müssen uns überlegen, wie wir die Mitarbeitenden besser unterstützen können, sich selbst zu organisieren. Dies erfordert stets eine ausgewogene Mischung aus Fördern und Fordern. Wir Führungskräfte ermutigen die Mitarbeitenden dazu, selbstorganisiert zu arbeiten, gewähren ihnen Freiraum und schenken ihnen Vertrauen. Es gibt aber auch schwierige Situationen, wo Führung fordern muss - und da kommen viele an ihre Grenzen. Sie wissen nicht, wie man unter dem Prinzip der Selbstorganisation auch Dinge fordern kann. Deshalb sollten wir auch darüber nachdenken, wie wir diejenigen, die in Selbstorganisation führen, effektiver unterstützen können.
Ein aktuelles Anliegen beschäftigt mich besonders: Ich habe den Auftrag erhalten, in Europa zu skalieren. Wir planen die Gründung von Betriebsstätten in anderen europäischen Ländern. Selbstorganisation hier bei uns im deutschen Kulturraum zu begründen, war schon nicht einfach, aber jetzt gehen wir in den spanischen, in den italienischen, in den französischen Kulturraum, und dort wird es jeweils ganz anders sein. Für mich stellt sich die Frage: Ist der Ansatz, den wir in Deutschland verfolgt haben, übertragbar? Funktioniert das dort genauso? Oder ist das zum Beispiel im spanischen Kontext komplett anders? Mich bewegt, wie andere Kulturen in anderen Ländern damit umgehen.
Das wäre der Fragebogen gewesen. Vielleicht noch ein paar Nachfragen. Wie sieht Führung unter den Bedingungen von Selbstorganisation aus?
Die Best-Case-Variante ist folgende: Der Firmenleiter fördert die Selbstorganisation und gibt klare Rahmenbedingungen vor. Die Herausforderung ist jedoch, dass er oft nicht genau weiß, welche Aufgaben auf ihn zukommen - weil wir aus einer Welt kommen, in der es nur klassische Manager und klassische Mitarbeiter gab. Selbstorganisation erfordert, dass auch der Firmenleiter dazulernt. In dem Transformationsprozess, den wir durchlaufen - oder durchlitten - haben, wurden sowohl von Führungskräften als auch von Mitarbeitenden Fehler gemacht. Dies hat zu Irritationen, Konflikten und längeren Diskussionen geführt - und im Effekt zu einer erheblich längeren Transformationszeit.
Wir haben dann für jedes Team einen Coach engagiert, der bei jedem Treffen mit dabei war und regelmäßig Impulse gegeben und systematisch eine Struktur geschaffen hat, damit das Team sich weiterentwickeln konnte. Indem sie gelernt haben, wie sie in Konfliktsituationen weiterkommen, wie sie Entscheidungen treffen, wie sie mit Eskalation und mit schwierigen Fragen umgehen. Wir haben jedoch den Fehler gemacht, diese Coachingstruktur zu früh zurückzufahren, weil wir dachten, die Teams seien bereits reif genug und könnten es alleine schaffen. Was wir daraus gelernt haben: Egal, ob du einen erfahrenen Servant Leader oder ein erfahrenes Team hast, es braucht einen externen Coach, der von außen Impulse gibt und damit Einsichten anstößt wie: "Oh, das haben wir bisher übersehen!" Solche Impulse sind wichtig, um die Weiterentwicklung anzuschieben. Denn das System kann sich auf Dauer nicht selbst befeuern. Das funktioniert nicht.
Sie haben gesagt, was Sie machen, ist klassisch digital, IT. Aber funktioniert Selbstorganisation auch bei der Strecke, beim Service? Oder beim Zugführer, der sich an seinen Fahrplan zu halten hat?
Auch da kann Selbstorganisation sehr wohl funktionieren. Wir haben bei uns im Konzern Selbstorganisation nicht nur in der IT ausprobiert, sondern mit Erfolg auch in anderen Bereichen. Zum Beispiel auf der Strecke, bei der Signaltechnik: ein kleines Team von zehn bis 15 Leuten, die für die Wartung der Strecken zuständig sind. Wir haben diesem Team die Möglichkeit gegeben, sich selbst zu organisieren. Zunächst einmal ging es darum, das Konzept der Selbstorganisation zu erklären. Denn die Mitarbeitenden waren es nicht gewohnt, selbst Entscheidungen zu treffen. Sie hatten ja immer einen Vorgesetzten, der dies für sie getan hat. Bis dahin sind diese Mitarbeitenden jeden Morgen mit ihren Dienstwagen zur Zentrale gefahren, haben ihre Arbeitsaufträge vom Arbeitsvorhalter erhalten und sind dann wieder rausgefahren, um das zu abzuarbeiten, also Signale, Schranken, Weichen warten.
Wir haben dann die Leute gefragt: "Was würdet ihr anders machen?" Nach einem halben Jahr mit zwei Coaches sah es dann so aus: Die Mitarbeitenden haben am Tagesbeginn eine Teamsitzung abgehalten, in der sie die Arbeitsaufträge untereinander abgestimmt haben - und sie benötigten den Vorarbeiter gar nicht mehr, weil sie natürlich ihre Strecken kennen. Jetzt teilen sie die Arbeit unter sich auf - zum Beispiel: "Drei Baustellen sind nahe an meinem Wohnort, die kann ich übernehmen". So haben sie Wegezeiten und Fahrten gespart, und es blieb mehr Zeit für Familie und für alltägliche Besorgungen im Anschluss an die Arbeit. Und das Spannende dabei war: Am Ende haben sie 20 Wartungen mehr pro Woche durchgeführt - und sie waren zufriedener.
Solche Lösungen kommen aber nicht von Außenstehenden, auch nicht von einem klugen Vorgesetzten. Man muss den Mitarbeitenden Raum geben, selbst Ideen zu entwickeln. Mehr Freiraum zu geben, bedeutet nicht totale Autonomie. Dann gibt es immer noch Regeln. Aber die Leute überlegen jetzt selbst, wie sie diese Regeln erfüllen können. Und das funktioniert überall, nicht nur in der IT.
Und Zugführer? Ich habe mal den folgenden Einwand gegen Selbstorganisation aufgeschnappt: "Wenn ich bei Tempo 300 im ICE von München nach Berlin sitze, dann möchte ich nicht, dass der Zugführer darüber nachdenkt, wie er sich am besten selbst organisiert." Was sagen Sie dazu?
Das ist ein spannender Punkt. Der Lokführer hat klare Regeln, und die befolgt er. Das hat auch nichts mit Selbstorganisation zu tun. Und auch nichts mit dem Eisenbahnbereich. In vielen Branchen gibt es Regeln und gesetzliche Vorschriften, die einfach befolgt werden müssen. Punkt.
Aber was ist mit der Urlaubsplanung? Was mit der Streckenplanung? Warum sollte es ein Problem sein, wenn auf der ICE-Strecke von Hamburg nach München in Würzburg ein anderer Lokführer übernimmt, weil sie sich untereinander abgesprochen haben? Zum Beispiel, weil der Zugführer, wenn er den ICE durchgehend bis München fährt, anschließend mit dem Regionalexpress heim nach Würzburg fahren muss. So etwas kann aber aufgrund der Komplexität nicht geplant werden. Das muss direkt zwischen den Kollegen vereinbart werden, Hand in Hand. Oder was spricht dagegen, anstelle zufällig zusammengewürfelten Zugpersonals effiziente Teams von Lokführern, Zugchefs und Schaffnern zu bilden? Dann werden immer noch die Regeln befolgt, aber den Mitarbeitenden wird Flexibilität gegeben, ihre Arbeit selbst zu organisieren.
Kommen wir nochmal auf Ihr Buch zu sprechen und das Thema Großorganisationen. Eine Frage aus einer Überschrift extrahiert: Wie kann die vollständige Transformation eines Unternehmens in Selbstorganisation gelingen - Nachsatz: "zumal dann, wenn es sich um ein Großunternehmen handelt?
In einem Großunternehmen umfasst die Belegschaft zwischen fünfzigtausend und dreihundert- bis vierhunderttausend Mitarbeitende. Es ist unrealistisch, hier Selbstorganisation auf einen Schlag einführen zu wollen. Stattdessen beginnt man in einem abgegrenzten Bereich. Unser Konzern ist, wie gesagt, in Geschäftsbereiche gegliedert, in eigenständige GmbHs. Damit war die Aufteilung bereits gegeben. Wir haben zuerst eine GmbH transformiert und dann die Impulse auf andere Tochtergesellschaften übertragen. Ich empfehle anderen großen Unternehmen, die große Geschäftsbereiche und Länderbereiche haben, nach diesem Modell vorzugehen, also mit einem disjunkten Bereich zu beginnen. Disjunkt bedeutet, es gibt ein geschlossenes Geschäftsmodell, ein festgelegtes Regelwerk und - im deutschen und europäischen Kontext - einen Betriebsrat. Man beginnt in diesem Bereich und bewegt sich schrittweise in die neue Welt. Schritt eins dabei: den großen Elefanten in kleine Scheiben schneiden, also den großen Konzern in kleine, disjunkte Teile aufteilen. Und dann mit der Transformation beginnen.
Dabei gibt es drei wichtige Punkte, die beachtet werden müssen. Der erste Punkt ist Orientierung: Es braucht eine Vision, wohin man will. Entscheidend ist, zu verstehen, dass der Weg zu dieser Vision nicht ist, einen Plan zu erstellen und diesen dann umzusetzen. Nicht Planen und Ausrollen also. Sondern man geht Schritt für Schritt voran. So war es auch bei uns. Wir hatten eine Idee, wie wir vorgehen wollten; in der Transformation hat sich dann aber gezeigt, dass hier und da Anpassungen notwendig waren; wir haben dann unser Vorgehen dann entsprechend neu ausgerichtet und unsere Vision weiterentwickelt. Das ist die erste Säule.
Die zweite Säule mag klassisch klingen, ist aber unverzichtbar: Es gibt einen Meilensteinplan für jedes Team, das sich in die Selbstorganisation entwickelt. Denn die Kriterien müssen klar sein, die ein Team erfüllen muss, um einen Schritt weiterzukommen. Es hilft den Teammitgliedern, wenn sie stets wissen, was sie organisatorisch oder persönlich tun müssen, um sich weiterzuentwickeln.
Der dritte Punkt ist ebenso wichtig. Ein Team sollte niemals größer als zehn Personen sein. In einem kleinen Team kennt man sich untereinander und der Kommunikationsaufwand ist gering, bei mehr als zehn Personen hingegen wird es schwierig, sich zu koordinieren. Um selbstorganisiert Entscheidungen zu treffen, ist es jedoch extrem wichtig, immer ungefähr zu wissen, was die anderen tun und welche Meinung sie vertreten. Entscheidend ist, dass die Mitarbeitenden die Befugnis haben, selbst Entscheidungen zu treffen und ihre Arbeit selbst zu organisieren. Die Trennung von Was und Wie ist ein zentraler Punkt: Die Geschäftsführung gibt vor, was zu tun ist, aber wie es umgesetzt wird, entscheiden die Teams selbst.
Je kleiner man beginnt, desto besser? Ist es richtig, klein anzufangen?
Wenn man klein anfängt, ist man schneller fertig und es gibt nicht so viel Friktion in der Abstimmung. Zu klein darf die Einheit aber auch nicht sein, denn sonst ist sie zu leicht angreifbar. Wenn in der Transformation etwas schiefläuft und Dinge nicht gut laufen - und das passiert immer - wird die große Masse eines Konzerns die kleine Einheit plattmachen und das kleine Pflänzchen, das dort wächst, kaputttreten. Aber zweitausend bis zehntausend Mitarbeitende, das ist eine signifikante Masse, die man nicht einfach ignorieren kann. Man ist dann auf Augenhöhe mit anderen Strukturen, die klassisch organisiert sind. Natürlich gibt es Reibungsflächen, aber man gerät nicht so leicht unter die Räder.
Und wo beginnen?
Selbstorganisation startet man in der Produktion, nicht in den Querschnittsbereichen und nicht in der Innovation. Denn hier greifen die Manager zuallererst durch, wenn Schwierigkeiten auftreten. Deswegen ist es wichtig, eine Veränderung dieser Größenordnung immer in einem Produktionsbereich anzustoßen.
Sie schreiben, aller Anfang sei einfach. Das ist optimistisch formuliert, klingt aber zugleich so, als ob die Schwierigkeiten dann danach kämen.
Der Anfang ist tatsächlich einfach. Denn wie fängt man an? Natürlich legt man nicht einfach den Schalter um, und von einem Tag auf den anderen arbeiten alle anders. Das Probieren zwar viele, aber es funktioniert nicht. In jedem Unternehmen gibt üblicherweise zirka zehn Prozent Early Birds. Das sind die, die etwas Neues ausprobieren möchten, die flexibel sind in ihrer Haltung. Mit denen fängt man an. Und man wählt bewusst einen Produktionsbereich, der gerade in Schwierigkeiten steckt und prädestiniert ist dafür, etwas Neues auszuprobieren.
Dieses Early-Bird-Team wird in diesem Produktionsbereich - nach einem Weg durchs Tal der Tränen - Erfolg haben, indem sie das gleiche Ergebnis mit weitaus weniger Aufwand und weitaus weniger Budget erreichen. Oder anders gesagt: Die gleichen Leute erzeugen mehr Effizienz im Unternehmen. Der Auftraggeber, sei es ein interner Auftraggeber oder ein anderes Unternehmen, wird dann voraussichtlich nur noch mit dieser neuen Struktur arbeiten wollen und nicht mehr mit der alten. Und es werden sich zunehmend mehr Teams anschließen, So entsteht ein Sog, vielleicht sogar ein Schneeballeffekt.
Wie erreicht man diesen Effekt?
Ein Team mit zehn Mitarbeitenden wird aufgeteilt in zwei Teams mit jeweils fünf Mitgliedern, und es werden jeweils fünf Stellen intern ausgeschrieben, auf die sich Mitarbeitende aus der alten Organisation bewerben können. So entsteht nach und nach ein Sog in Richtung der neuen Welt. Und man gewinnt diejenigen, die sich dafür begeistern. Zweiter Punkt: Die Mitarbeitenden überlegen sich nicht nur, wie sie sich selbst organisieren, sondern sie gestalten auch die neue Unternehmensstruktur. Wir haben diese motivierten Teams gefragt, wie die neue Organisation hinter ihnen - also nicht über ihnen, sondern hinter ihnen - aussehen muss, damit die Transformation erfolgreich ist. Das ist eine anspruchsvolle Frage. Aber mit Coaching-Unterstützung konnten die Mitarbeitenden einen Blick dafür entwickeln. Sie haben die neue Struktur konzipiert, und dadurch sind evolutionär Unterstützungsstrukturen entstanden. Teams wurden zu Einheiten, Einheiten zu Clustern, und diese wurden von der Geschäftsführung anerkannt. Die neue Welt wurde also nicht von den alten Managern geschaffen, sondern von den Mitarbeitenden selbst. Sie haben selbst entschieden, wer von der alten Welt in die neue Welt hinübergeht, denn sie haben die Ausschreibungen gemacht und die Personalentscheidung getroffen. So ist diese neue Arbeitswelt entstanden. Auch wenn es schlussendlich immer noch die gleichen Kollegen sind.
Es gibt also zwei Grundregeln: Erstens beginnt man mit Early Birds und schafft bewusst einen Vergleich zur alten Welt. Wenn der Kunde dann sagt, er möchte das Neue, geht es immer mehr in die neue Welt. Zweitens ist es wichtig, gemeinsam mit den Mitarbeitenden zu besprechen und zu überlegen, wie man die neue Organisation aufbaut. Auf diese Weise entstand bei uns eine vollständig andere, also wirklich um 180 Grad gedrehte Organisationsstruktur. Natürlich hat diese Transformation fünf bis sechs Jahre gedauert, aber sie hat funktioniert.
Das heißt, man baut ganz bewusst eine Parallelstruktur auf, die sich bewähren kann? Und die, wenn sie sich bewährt, die alte Welt ablöst?
Genau. Wir konnten natürlich nicht einfach die Mitarbeitenden doppeln, weil das Geschäft ja weiterlaufen musste. Deshalb haben wir uns mit externen Fachkräften verstärkt, die die bestehende Struktur vorübergehend aufrechterhalten haben, bis die neue Organisation übernehmen konnte. Die Kosten mögen auf den ersten Blick hoch erscheinen, aber der Effekt, der am Ende entsteht, ist es wert!
Welche Schwierigkeiten sind zu erwarten, welche Widerstände sind Ihnen begegnet?
Weil die Mitarbeitenden an ihre Grenzen kamen, brauchten sie viel Unterstützung - darüber haben wir schon gesprochen. Das zweite war der Widerstand seitens der Führungskräfte. Die alte Organisation hat gegen die neue gearbeitet. Man hat Gründe gefunden, warum die Veränderungen nicht funktionieren würden. Man hat uns Fehler vorgeworfen. Aber wenn man in eine neue Struktur geht, dann passieren Fehler - in der alten Welt aber werden Fehler scharf kritisiert. Dort herrscht bekanntlich eine Nullfehlerkultur, in der Fehler nicht toleriert werden …
… welche Vorwürfe waren das zum Beispiel?
Von Auftraggeberseite wurde uns vorgeworfen, dass wir uns vorwiegend mit uns selbst beschäftigen würden, dass wir nur Probleme verursachen, dass wir unsere Qualität einbüßen und so weiter. Doch im Laufe der Zeit wurden diese Bedenken ausgeräumt. Tatsächlich hat sich unsere Qualität sogar verbessert.
Eine weitere Hürde waren arbeitsrechtliche Themen. Oft heißt es, der Betriebsrat oder das Arbeitsrecht stünden der Selbstorganisation im Weg. Doch das stimmt nicht. Wenn man den Betriebsrat von Beginn an einbezieht, kann man diese Hürde umgehen. Arbeitsrecht und Selbstorganisation lassen sich gut miteinander vereinbaren.
Und die Schwierigkeiten auf Teamebene? Sie sagen, jedes Team geht durch das Tal der Tränen?
Was ich damit meine: Teams durchlaufen einen Reifeprozess. Zunächst sind alle motiviert, müssen dann aber feststellen, dass Selbstorganisation doch nicht so einfach ist wie gedacht. Und irgendwann schlittert das Team in die Demotivation: "Das funktioniert nicht. Früher lief alles besser. Lasst uns zurückgehen zur alten Struktur." Genau an diesem Punkt darf man ein Team nicht alleinlassen. Genau dann braucht es einen Coach, der interveniert: "Lasst uns einen Schritt zurücktreten! Was passiert hier gerade? Wir haben zu viele Aufträge? Warum haben wir zu viele Aufträge? Wir haben Qualitätsprobleme. Warum haben wir Qualitätsprobleme? Bedingt vielleicht das eine das andere? Offenbar können sich ein paar Leute im Team nicht mehr leiden. Was steht dahinter? Handelt es sich um persönliche Probleme oder seid ihr einfach nur im Stress?" Dem Team solche Fragen zu stellen und gemeinsam daran zu arbeiten, hilft ungemein, die Orientierung wiederzufinden. Aber wirklich jedes Team geht durch dieses Tal der Tränen. Es muss lernen, dass Selbstorganisation nicht so einfach ist, wie man sich das vielleicht vorgestellt hat. Aber bei 99 Prozent der Teams wird es am Ende super funktionieren.
Oft hört man: Wenn die Leute keine Vorschriften mehr bekommen, keinen strikten Handlungsrahmen mehr haben, wenn keiner mehr ansagt, dann schlagen sie über die Stränge.
Die Probleme hatten wir auch. Viele missverstehen Selbstorganisation als Autonomie: Sie denken, dass sie alles selber machen können und niemand mehr da ist, der ihnen sagt, was sie zu tun haben. Doch das ist falsch. In der Selbstorganisation gibt es klare Rahmenbedingungen, die berücksichtigt werden müssen. Sie bieten so viel Freiraum wie möglich und geben so viel vor wie nötig.
… wie ist das gemeint, wenn Sie schreiben, vorgegeben werde nur das Nötigste?
Es braucht immer Leitplanken: Wohin wollen wir als Unternehmen? Wir hatten Teams, die Duschköpfe verkaufen wollten - aber wir sind ein IT-Dienstleister für die Bahn. Wir machen IT, keine Duschköpfe! Das ist wirklich passiert. Es zeigt, dass es gewisse Rahmenbedingungen im Unternehmen gibt, die vorgegeben sind: strategische Ausrichtung, wirtschaftliche Ziele, Compliance, Standardisierung - alles Faktoren, die beachtet werden müssen. Das sind die Rahmenbedingungen für Selbstorganisation. Sie regeln das Nötigste - aber sie bieten Flexibilität, innerhalb dieser Grenzen zu agieren und Entscheidungen zu treffen. Autonomie hingegen würde bedeuten, komplett losgelöst handeln zu können. Bei uns aber geht es um Selbstorganisation. Wir hatten auch Teams, die weit über die Ziellinie hinausgeschossen sind und autonom sein wollten - sie haben jedoch nur Probleme bekommen. Gleichzeitig haben wir damit zu kämpfen, dass einige Teams noch in der alten Welt verankert sind und die neue Welt eher spielen als leben.
Ein Thema noch: Als Erfolgsbedingung für die Einführung und Durchsetzung von Selbstorganisation benennen sie auch einen systematischen Umgang mit Mythen und Vorurteilen. Welche Mythen und Vorurteile sind das und wie geht man damit um?
Man kann das Projekt Selbstorganisation so sorgfältig konzipieren, wie man möchte, letztlich entscheidet der Flurfunk darüber, ob es erfolgreich ist oder nicht. Wenn die Mythen im Flurfunk nicht aufgelöst werden, fallen Entscheidungen auf der Grundlage von Informationen, die man irgendwo gehört hat - also auf Basis von Mythen, die sich irgendwo wild entwickelt haben, die aber nichts mit Selbstorganisation zu tun haben. Die größten Mythen sind:
Der erste Mythos: "Wir entscheiden immer alle gemeinsam."
Der zweite Mythos ist, dass die Geschäftsführung keine Rolle mehr spielt.
Ein dritter Mythos ist, dass die verfügbaren Werkzeuge nach Belieben genutzt werden können.
Dies waren nur drei von möglicherweise zwanzig, dreißig oder vierzig Mythen, die uns zu schaffen gemacht haben. Die Liste ist lang.
Und welches war der schlimmste Mythos?
Am meisten wehgetan hat uns dieses "Wir entscheiden immer alle gemeinsam!" Und: "Selbstorganisation braucht keine Führung." Dies sind die größten Irrtümer. In Selbstorganisation gibt es weitaus mehr Führungsarbeit zu tun als zuvor.
Den Flurfunk gibt es wohl auch zwischen den Chefbüros der alten Ebene. Welche Mythen sind es, die dort kursieren?
Die Mythen aus der alten Welt sind einfach gestrickt: ineffizient, zu teuer, mangelnde Qualität und so weiter. Hinzu kommen persönliche und unternehmerische Mythen: kann man nicht steuern … führungslos … viele Konflikte … Wohlfühlmodell … und so weiter und so weiter. Unsere Wahrnehmung dabei ist: Das persönliche Interesse der alten Führungsriege hat reagiert. Negative Stimmung wurde im Unternehmen verbreitet, um Widerstand gegen die Transformation zu erzeugen. Dieses Hin und Her hat viel Zeit gekostet. Das ließ sich aber auch nicht vermeiden, weil immer der Mensch, die Kultur und die persönlichen Befindlichkeiten mit hineinspielen. Aber man sollte es wissen und dagegen angehen.
Einen Schlusssatz noch?
Mein Fazit ist erstens, dass ich in einer Welt arbeite, aus der ich nicht mehr weg möchte. Ich habe es jetzt besser als zuvor, auch als Servant Leader. Und zweitens: Selbstorganisation ist nicht ausschließlich ein IT-Thema. Sie kann in jeder Organisationsform und in jedem Geschäftsfeld funktionieren. Das möchte ich weitergeben.
Das Interview basiert auf einem mündlich beantworteten Interviewleitfaden mit 15 Fragen, ergänzt mit den Antworten auf einige gezielte Nachfragen. Das Interview haben wir telefonisch geführt.
Zitate
"Die Mitarbeitenden sind intelligent genug, um eigenständig Entscheidungen zu treffen und zu verstehen, wie das Unternehmen funktioniert." René Schneider: Schritt für Schritt in die neue Welt
"Die Menschen, die die tägliche Arbeit verrichten, sind die Experten für ihr Geschäft." René Schneider: Schritt für Schritt in die neue Welt
"Klassische hierarchische Führungssysteme sind das Gegenteil von Selbstorganisation." René Schneider: Schritt für Schritt in die neue Welt
"Weil viele Manager in klassisch gestalteten Unternehmen Selbstorganisation nicht verstehen, sind sie schnell bei der Hand zu behaupten, dass Selbstorganisation nicht funktioniere." René Schneider: Schritt für Schritt in die neue Welt
"Ist Selbstorganisation die nächste Generation der Unternehmensstruktur? Davon bin ich überzeugt." René Schneider: Schritt für Schritt in die neue Welt
"Ich würde nie wieder in einer alten Organisationsstruktur arbeiten wollen. Für mich gibt es keinen Weg zurück." René Schneider: Schritt für Schritt in die neue Welt
"Die Entscheidungen liegen in den Händen derjenigen, die direkt mit dem jeweiligen Kunden interagieren. Durch diese dezentrale Entscheidungsfindung wird die Organisation erheblich flexibler und schneller." René Schneider: Schritt für Schritt in die neue Welt
"Wir sind nicht nur flexibler geworden, indem wir uns schneller auf Kunden ausrichten, sondern wir haben unsere Effizienz um fast fünfzig Prozent gesteigert." René Schneider: Schritt für Schritt in die neue Welt
"Es gilt, die Mitarbeitenden zu ermutigen, selbst Ideen zu entwickeln." René Schneider: Schritt für Schritt in die neue Welt
"Meine Aufgabe als Servant Leader ist, die Teammitglieder in ihrer Verantwortung zu unterstützen, sodass sie ihre Aufträge beim Kunden möglichst gut erfüllen können." René Schneider: Schritt für Schritt in die neue Welt
"Das ist es, was Selbstorganisation ermöglicht: Wir schaffen mehr mit der gleichen Kapazität." René Schneider: Schritt für Schritt in die neue Welt
"Man muss den Mitarbeitenden Raum geben, selbst Ideen zu entwickeln." René Schneider: Schritt für Schritt in die neue Welt
"Entscheidend ist, dass die Mitarbeitenden die Befugnis haben, selbst Entscheidungen zu treffen und ihre Arbeit selbst zu organisieren. Die Trennung von Was und Wie ist ein zentraler Punkt: Die Geschäftsführung gibt vor, was zu tun ist, aber wie es umgesetzt wird, entscheiden die Teams selbst." René Schneider: Schritt für Schritt in die neue Welt
"Die neue Welt wurde nicht von den alten Managern geschaffen, sondern von den Mitarbeitenden selbst." René Schneider: Schritt für Schritt in die neue Welt
"Die alte Organisation hat gegen die neue gearbeitet." René Schneider: Schritt für Schritt in die neue Welt
"Arbeitsrecht und Selbstorganisation lassen sich gut miteinander vereinbaren." René Schneider: Schritt für Schritt in die neue Welt
"Wirklich jedes Team geht durch das Tal der Tränen. Es muss lernen, dass Selbstorganisation nicht so einfach ist, wie man sich das vielleicht vorgestellt hat." René Schneider: Schritt für Schritt in die neue Welt
"In Selbstorganisation gibt es weitaus mehr Führungsarbeit zu tun als zuvor." René Schneider: Schritt für Schritt in die neue Welt
changeX 15.03.2024. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zum Buch
René Schneider: Selbstorganisation und Agilität in Großunternehmen. Den Wandel erfolgreich meistern. Carl Hanser Verlag, München 2023, 538 Seiten, 69.99 Euro (D), ISBN 978-3-446472983
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.
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