Spaltung und andere Fehler

Die pro zukunft-Buchkolumne 1|2024 mit fünf Perspektiven auf die Gesellschaft
Sammelrezension: Stefan Wally, Dhenya Schwarz, Jean-Marie Krier, Hans Holzinger

Fünf unterschiedliche Perspektiven auf Gesellschaft, Staat, Politik eröffnet die aktuelle Ausgabe der pro zukunft-Buchkolumne mit fünf Rezensionen aus der ersten Ausgabe des Jahres. Darin geht um eine andere Vorstellung vom Staat, um die These von der Spaltung der Gesellschaft, um den Umgang der Politik mit Fehlern, um fossile Irrwege in der Energiepolitik und um neue Bilder von der Zukunft.

Um die folgenden Bücher geht es: Dominik Vogt präsentiert mit Der breite Staat einen Vorschlag, wie ein nachhaltiger Liberalismus jenseits des Kapitalismus aussehen könnte. Jürgen Kaube und André Kieserling setzen sich in Die Spaltung der Gesellschaft kritisch mit der verbreiteten Diagnose einer Spaltung der Gesellschaft auseinander. Ihre Vermutung: Die Spaltungsthese wird instrumentalisiert, um bestimmten Konflikten mehr Aufmerksamkeit oder Entscheidungen zu vermeiden. Die Politikjournalistin Helene Bubrowski beschäftigt sich in ihrem Buch Die Fehlbaren damit, wie die Politik in Deutschland mit Fehlern umgeht, und möchte damit zu einer besseren Fehlerkultur beitragen. Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am DIW, beschreibt in ihrem Buch Schockwellen die energiepolitischen Folgen des Angriffs Russlands auf die Ukraine und zeigt, wie sehr Energiepolitik mit Machtpolitik und Lobbyismus verflochten ist. Die Autorinnen und Autoren vom Thinktank Reinventing Society schließlich entwerfen in Zukunftsbilder 2045 neue Bilder von der Zukunft, um den notwendigen Wandel attraktiv und andere Zukunftsentwürfe vorstellbar zu machen. Die beiden zuletzt genannten Titel waren mit dabei in unserer Auswahl der Zukunftsbücher des Jahres 2023. Mit den beiden Rezensionen in dieser Buchkolumne liegen nun zu allen ausgewählten Zukunftsbüchern ausführlichere Besprechungen vor.


Vom Eigenen und dem Erworbenen


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Dominik Vogt präsentiert mit Der breite Staat einen Vorschlag, wie ein nachhaltiger Liberalismus jenseits des Kapitalismus aussehen könnte. Der Kapitalismus ist nicht abzuschaffen, er müsse aber als eine "Umwelt" der Gesellschaft betrachtet werden, die es zu nutzen gilt. Das zeigt die strenge Priorität der gesellschaftlichen Entscheidung vor dem wirtschaftlichen Sachzwang bei Vogt. 

Und so sieht seine Utopie aus: Wir reden über eine garantierte Grundversorgung in einer marktwirtschaftlichen Umwelt. "Privat vor Staat" bezieht sich bei Vogt nicht auf die Wirtschaft, sondern auf die Gesellschaft. In der Trias von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft soll der Akzent auf der Gesellschaft liegen. "Weder Politik noch Wirtschaft sollen bestimmen, wie wir leben; und eine liberale Gesellschaft will es nicht" Denn sie gibt sich eine Politik und Wirtschaft, um ein freies Leben zu ermöglichen. Der "breite Staat" ist offensichtlich kein "schlanker Staat", er soll aber auch kein "starker Staat" sein. Er vertraut der Freiheit der Menschen und geht nicht davon aus, dass die Gesetze des Marktes Freiheit realisieren. Er greift aber in die Wirtschaft ein, denn die Eigeninitiative brauche eine materielles Fundament. Vogt spricht sich für ein Grundeinkommen aus, das neben einer Grundversorgung mit Dienstleistungen steht. 

Vogt sieht drei Arten von Arbeit: die unbezahlten privaten Aktivitäten der Menschen, die Tätigkeiten, die durch finanzielle Marktanreize erfolgen, und sogenannte "Bürgerdienste". Mit letzteren sollen Dinge erledigt werden, die weder privat noch auf dem Markt erbracht werden. 

Eigentum ist Vogt wichtig. Aber er unterscheidet zwischen zwei Begriffen, dem "Eigenen" und dem "Erworbenen". Das "Eigene" umfasst die Dinge, die man zum Leben braucht, wie Wohn- und Lebensmittel, aber auch Werkzeuge und Werkstätten. Über das Eigene soll man frei verfügen dürfen. Im Gegensatz dazu steht das "Erworbene". Eigentum über das "Eigene" hinaus sei wichtig als Motivation, das Erworbene sei aber nicht genauso absolut zu schützen wie das "Eigene". Zwar sei Ungleichheit zu ertragen, aber die Gesellschaft habe hier das Recht, steuernd einzugreifen. Die Eingriffe in die Wirtschaft seien auch durch den Klimawandel begründbar. Es geht Vogt um eine "gesunde, nicht um eine wachsende Wirtschaft". Von Stefan Wally


Die Spaltungsthese wird instrumentalisiert


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In den Massenmedien ist es oft zu sehen, zu hören und zu lesen: Unsere Gesellschaft ist zunehmend von Spaltungsdynamiken geprägt, so zumindest die These. Auch in der sozialwissenschaftlichen Fachliteratur ist die Annahme weit verbreitet: zunehmende Individualisierung oder gar Singularisierung treiben uns auseinander, polarisieren und machen Konflikte zu teils unüberwindbaren Gräben. 

Jürgen Kaube und André Kieserling setzen sich in Die Spaltung der Gesellschaft kritisch mit dieser verbreiteten Gesellschaftsdiagnose auseinander. Ihre Vermutung: Die Spaltungsthese wird instrumentalisiert, um bestimmten Konflikten mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen, sie medial aufzuwerten oder Entscheidungen zu vermeiden. 

Die Autoren definieren Spaltung als schwerwiegenden Konflikt um die nationale Einheit, der ganze Bevölkerungsgruppen umfasst: "Bloßer Streit, er mag noch so heftig sein, reicht also nicht aus, um von gesellschaftlicher Spaltung zu sprechen". Sie stellen dabei fest, dass Spaltung auch verallgemeinert wird, um sie einer ganzen Gesellschaft zuschreiben zu können. Bei genauerem Hinsehen kristallisieren sich jedoch viele Linien und Varianten heraus, die sich nicht kausal zu einer generellen Spaltung zusammenfassen lassen. Im Verlauf der Argumentation werden daher einige dieser Spielarten wie politische Polarisierung, Entscheidungsvermeidung wie im Impfpflicht-Konflikt und Identitätspolitik beleuchtet, um zu zeigen, dass die gesellschaftlichen Realitäten nicht die oft behaupteten tiefen Spaltungslinien aufweisen. 

Zugleich betonen die Autoren das integrierende Potenzial von Konflikten. In einer Demokratie sind Konflikte gar unabdingbar, um gesellschaftlich relevante Fragen auszuhandeln. Folgt man nicht der attestierten "Angstlust", so zeigt sich schnell, dass soziale Veränderungen eng mit Konfliktbearbeitung zusammenhängen und nicht zwangsläufig in einer Spaltung der Gesellschaft enden. Somit ist es in diesen medialen Auseinandersetzungen angebracht, kritisch zu reflektieren, wer solche Diagnosen wann und warum erstellt und ob sich darin tatsächlich gefährliche Dynamiken verbergen oder andere Motivationen ablesbar sein könnten. 

Das Buch fordert dazu auf, den Begriff der Spaltung in der gesellschaftlichen Diskussion kritisch zu hinterfragen, die Rolle der öffentlichen Meinung bei der Entstehung dieser Diagnose zu überdenken und Angst schürenden Thesen nicht blind zu folgen. Eine Aufforderung, die in Zeiten der Aufmerksamkeitsökonomie sicherlich auf weitere zeitgenössische diagnostische Annahmen über die Gesellschaft übertragbar ist. 

Kaube und Kieserling bieten mit dieser Analyse eine differenzierte, soziologische Perspektive auf das Thema und eine zugleich teils amüsante, teils provokante Auseinandersetzung, die nicht die Ernsthaftigkeit für die Konsequenzen unreflektierter Angstmacherei preisgibt. Denn glaubt man nun an eine Spaltung der Gesellschaft oder nicht - die Wirkung dieser unhinterfragten These stellt sich ein, auch wenn der Ursprung als fragwürdig einzuordnen ist. Die These einer unmittelbaren Gefahr einer Spaltung der Gesellschaft bestätigen die Autoren nicht. Und leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Entschärfung solcher Annahmen. Von Dhenya Schwarz


Vom Umgang mit Fehlern


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Die deutsche Politikjournalistin Helene Bubrowski, die für die FAZ schreibt, beschäftigt sich in ihrem Buch Die Fehlbaren damit, wie die politische Klasse in Deutschland mit Fehlern umgeht. Das Buch möchte einen Beitrag zu einer besseren "Fehlerkultur" leisten, bei der es um einem produktiven Umgang mit Fehlern geht: "Voraussetzung ist die eigene Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, sich der Öffentlichkeit zu erklären, um Vertrauen zu erhalten oder wiederzugewinnen". Dabei ist die Frage, wie man "Fehler" in der Politik definieren kann, nicht so leicht zu beantworten, denn es gibt "in der freiheitlichen Demokratie keine Instanz, die das verbindlich entscheidet". Daher gilt: "Was erlaubt ist, kann trotzdem ein Fehler sein. Und nicht alles, was verboten ist, ist politisch gesehen automatisch ein Fehler." 

Den ersten Teil des Buches bilden Kapitel, die jeweils eine Politikerin oder einen Politiker in den Mittelpunkt stellen, und deren Fehler beziehungsweise Verfehlungen im Detail nachzeichnen. Die Basis für diese Darstellungen bilden Interviews mit den Betroffenen selbst oder mit Personen aus deren direktem beruflichen Umfeld. Wenn es um den ehemaligen Verkehrsminister Andreas Scheuer geht (Stichwort: Maut-Fiasko), um die Außenministerin Annalena Baerbock (beschönigter Lebenslauf und unklare Angaben bei der Autorschaft eines Buches) oder den ehemaligen deutschen Gesundheitsminister Jens Spahn, dann zeigt sich, dass in der öffentlichen Wahrnehmung manchmal der Fehler selbst nicht so sehr das Problem darstellt, sondern vielmehr der oftmals trotzende Umgang damit. Dabei haben auch "die Medien und die politischen Gegner … Einfluss darauf, ob ein Vorwurf gleich wieder verglimmt oder einen Flächenbrand entzündet". 

Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der als ehemaliger Außenminister als der Architekt der deutschen Russlandpolitik gilt, hat nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine diese Politik als kollektiven Irrtum und Scheitern beschrieben. Dennoch - wahrscheinlich aus Respekt vor dem Amt - blieb die erwartete Welle von "selbstkritischen Äußerungen von Kolleginnen und Kollegen" aus der Politik indes aus. Bemerkenswert, dass es für die Autorin im Rahmen einer Fehlerkultur gilt, auch solche Entscheidungen in den Blick zu nehmen, "die sich erst im Nachhinein als falsch herausstellen". 

Nach den personenbezogenen Kapiteln begibt sich die Autorin im zweiten Teil des Buchs auf die Suche nach möglichen Grundelementen einer funktionierenden Fehlerkultur. Dazu beleuchtet sie unterschiedliche soziale Kontexte, die bei der Frage, wie am besten mit Fehlern umzugehen sei, hilfreich sein können. Zu diesen interessant aufbereiteten Stationen auf der Suche nach Lösungsansätzen im Umgang mit Fehlern gehört auch die Tesla-Gigafactory in Grünheide/Brandenburg. Die Autorin stellt sich ebenfalls dem schwierigen Verhältnis zwischen "Pressefreiheit und journalistischem Jagdinstinkt", welches angesichts der Logik der Aufmerksamkeitsökonomie schwieriger zu werden scheint - "ein Verdacht lässt sich skandalisieren, seine Auflösung nicht". 

Weiterhin gibt es eine Analyse, wie in diesem Zusammenhang der vormals Twitter genannte Nachrichtendienst X zu sehen ist, der neue Möglichkeiten in der direkten Kommunikation zwischen Politik und Öffentlichkeit eröffnet hat, mit allen Vor- und Nachteilen. "Auf Twitter kann sich jeder als Journalist fühlen und Skandale enthüllen - auch wenn es vielleicht gar keine sind". Anregend ist auch der Ausflug in die Start-Up-Szene, wo in sogenannten Fuck-up-Nights Gründerinnen und Gründer über ihre Fehler und Rückschläge erzählen, und dabei "das Scheitern zelebrieren, um das Wiederaufstehen leichter zu machen". Zwei weitere Kapitel führen ins Gericht - wie gehen Angeklagte mit den ihnen vorgeworfenen Fehlern um? - und in die Institution Kirche, der "Spezialistin, wenn es um Versöhnung geht". Sie hat mit der Beichte, welche die Möglichkeit bietet, in einem "Safe Space" seine Fehler zu bekennen und Buße zu tun, die Möglichkeit geschaffen, umzukehren und dann, geläutert, neue Wege einzuschlagen. 

Hierauf aufbauend trägt das abschließende Kapitel einige Impulse für eine bessere Fehlerkultur zusammen. Dazu gehören: aus Fehlern nicht nur zu lernen, sondern auch Konsequenzen daraus zu ziehen; Untersuchungsausschüsse nicht zur Bühne zu machen; mehr Mut zum Streit aufzubringen; die Einsicht, dass nicht alles unbedingt transparent sein muss und es Safe Spaces braucht; und schließlich die Lehre, nicht zu übertreiben, denn es gilt: "Nicht jeder Fehler ist Versagen, nicht jeder Missstand ein Skandal." 

Ein interessantes Buch, das auf Verbesserungspotenziale auf der politischen Ebene aufmerksam macht, und einige - nicht nur in Deutschland verwertbare - Erkenntnisse bereithält. Von Jean-Marie Krier


Lehren für die Energiewende


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2014 hat das Europäische Parlament beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) eine Studie über die Sicherheit der Europäischen Energieversorgung in Auftrag gegeben. Das Ergebnis: Die Lage sei gegenüber der Erdgaskrise 2009 zwar besser geworden, aber nach wie vor instabil. Die Versorgung über die ukrainische Pipeline Nord Stream 1 sei sicher, ein möglicher Stopp der Gaslieferungen durch Russland aber eine große Gefahr - die durch den Verkauf zahlreicher Gasspeicher an Russland verschärft werde. Die Verdopplung der Kapazitäten durch Nord Stream 2 sei aber nicht notwendig und sinnvoll, so die Studie. Der Ausgang ist bekannt. Der Bau der neuen Pipeline wurde insbesondere auf Betreiben Deutschlands trotz Bedenken vieler EU-Staaten vorangetrieben. Eingetreten ist das, wovor die DIW-Expert:innen warnten: das Zurückdrehen des Gashahns durch Putin im Zuge der militärischen Invasion in der Ukraine. 

Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt des DIW, schildert dies in ihrem Buch Schockwellen, das im Kontext des Krieges gegen die Ukraine entstanden ist. Die Energieökonomin beschreibt detailliert die Ereignisse ab dem 24. Februar 2022, als russische Truppen in der Ukraine einmarschierten, sie skizziert aber auch die Politik in den Jahren davor, die zur Energieabhängigkeit Deutschlands von Russland geführt hat. Kemfert plädierte nach der Invasion für ein totales Energieembargo gegenüber Putins Russland, was bekanntlich nicht umgesetzt wurde. 12 Milliarden Euro flossen allein in den 100 Tagen nach Kriegsbeginn aus Deutschland für Energielieferungen an Russland. Die Energieökonomin kritisiert aber auch die Verlängerung der fossilen Abhängigkeit durch neue LNG-Terminals. Kemfert sieht sich bestätigt in den Versäumnissen insbesondere der Großen Koalition unter Angela Merkel mit Sigmar Gabriel und Olaf Scholz, die Energiewende nicht stärker vorangetrieben zu haben. Und sie zeigt auf, wie Energiepolitik mit Machtpolitik und Lobbyismus verbunden ist. Dies in einer geopolitischen Situation, in der über 50 Prozent der wirtschaftlichen Einnahmen einer Atommacht aus Energielieferungen stammen. 

Kemfert weiß viel und recherchiert gut. Sie zitiert die Studien ihres Instituts und "Gegenstudien" anderer Institute, die von der Fossilindustrie in Auftrag gegeben wurden. Am eindrucksvollsten ist ihr chronikales Verständnis: Die Geschichte der deutschen Verstrickung in die russische Energieabhängigkeit sowie das - aus ihrer Sicht - viel zu lange Wegsehen gegenüber dem imperialen Machtgehabe Putins wird minutiös nachgezeichnet. Man erfährt etwa, dass die Krim nicht nur wegen des Zugangs zum Schwarzen Meer, sondern auch aufgrund der riesigen Gasvorkommen in diesem von Bedeutung sei. Zahlreiche europäische Energieunternehmen hatten bereits Lizenzrechte für Bohrungen angebahnt, als Putin diesen mit der Besetzung der Halbinsel einen Strich durch die Rechnung machte. 

Kemfert nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn sie Versäumnisse der Politik in Bezug auf die Gasabhängigkeit von Russland, die Macht-Verstrickungen mit der Fossillobby sowie das Abdrehen der von Hermann Scheer, dem bedeutendsten Solarpolitiker Deutschlands, in die Wege geleiteten Energiewende anprangert. Außenminister (und später Bundespräsident) Frank-Walter Steinmeier sowie Bundeskanzlerin Angela Merkel kritisiert Kemfert insbesondere aufgrund ihrer Haltung des "Brückenbauens" gegenüber Putin, die sich als großer politischer Irrtum herausstellen sollte. 

Im Zentrum ihrer Kritik in Bezug auf die Energiewende stehen der ehemalige CDU-Umweltminister Peter Altmeier, der 2012 mit der "Ökostrompreisbremse" den Einbruch der Wind- und Solarenergie in Deutschland eingeläutet ("Altmeier-Knick"), sowie Sigmar Gabriel, als Wirtschaftsminister Hauptpromotor von Nordstream 2, der mit seiner "Ökostromreform" den Motor der Energiewende abgewürgt habe ("Sigmar-Senke"). Neue Ausschreibungs- und schleppende Genehmigungsverfahren hätten zum gänzlichen Einbruch der Branche für erneuerbare Energien in Deutschland geführt: "Zwischen 2016 und 2020 gingen in der Windkraftbranche circa 60.000 Jobs verloren, 26.000 davon allein 2017". Als Ursache für diese Wende nennt Kemfert das Setzen auf das vermeintlich billige Gas aus Russland sowie das Lobbying aus Industriekreisen. Viele Politiker:innen seien mit der Fossilindustrie verbandelt (gewesen). Das Täuschungswort vom Gas als "Brückentechnologie" habe suggeriert, dass für die Energiewende noch immer etwas fehle: "Indem man von Brücken spricht, rückt man sofort breite Lücken, tiefe Abgründe oder gefährliche Flüsse vor das innere Auge". 

Ein wichtiges, aufklärerisches Buch, das zu Recht große Beachtung gefunden hat. Wenn, dann sind es Texte wie dieser, die demokratische Öffentlichkeit herstellen und etwas bewegen.Von Hans Holzinger


Neue Bilder von der Zukunft


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Um den notwendigen Wandel attraktiv und andere Zukunftsentwürfe vorstellbar zu machen, brauchen wir neue Bilder dieser Zukunft. Der vom Thinktank Reinventing Society um Stella Schaller und Lino Zeddies gemeinsam mit der taz-Journalistin Ute Scheub herausgegebener Band Zukunftsbilder 2045 enthält zahlreiche solche Geschichten einer anderen, ökologischen Wirtschaft und Gesellschaft. 

Die Geschichte dahinter: Eine Journalistin macht fiktive Reisen in unterschiedliche deutsche, österreichische und Schweizer Städte des Jahres 2045. Sie trifft Menschen in Stadtverwaltungen, Bürgerinitiativen, Start-ups und Politik. Diese schildern ihr, wie sich ihre Stadt verändert hat und welche Ereignisse dazu geführt haben. Stadtaufnahmen aus der Jetztzeit werden bunte Zukunftsbilder der Städte aus dem Jahr 2045, illustriert von Sebastian Vollmar, gegenübergestellt. Viele Gebäude sind begrünt, die Dächer mit Photovoltaik-Paneelen ausgestattet. Autos sieht man wenige, dafür viele Radfahrende und Menschen zu Fuß. Die Städte gehören wieder den Menschen, öffentliche Räume laden zum Verweilen und Flanieren ein. Breiten Raum nehmen Stadtgärten, Permakulturanlagen, Glashäuser und renaturierte Brachflächen ein. "Gemüse und Gemeinschaftsgeist" lautet eine der Kapitelüberschriften. "Regenerator" und "Transformationsbegleiter" sind zu wichtigen, neuen Berufen in der Stadtentwicklung geworden. 

Auf moderne Technik wird nicht verzichtet - im Gegenteil. Neuartige "Windwheels" auf Hamburger Bürotürmen erzeugen Strom, im Hafen ankern wasserstoffbetriebene Schiffe, ein Solarflugzeug, "gefertigt im Airbus-Werk in Finkenwerder, befindet sich im Landeanflug". Die Zukunft wird keineswegs idealisiert, jede Stadt braucht auch in Zukunft Unternehmen und wirtschaftliche Potenz. Doch die alten Industrien sind passé. Ein Werftgelände in Bremerhaven wurde beispielsweise zu einem klimaneutralen Gewerbe- und Wohngebiet mit ergänzenden Freizeitanlagen umgebaut. Die Finanzmetropole Frankfurt hat sich der Donut-Ökonomie verschrieben, die daraus resultierenden gemeinwohlorientierten Banken und Unternehmen gestalten das Stadtbild maßgeblich mit. Auf dem Paradeplatz in Zürich residiert ebenfalls eine Bank für Gemeinwohl sowie eine "Akademie für Lebenskultur". Gesprochen wird von "Verantwortungseigentum". Wien besticht durch seine Schanigärten und Kaffeehäuser mit viel Platz im Freien. Die Wiener Urania darf in den Abendstunden kostenfrei von Bürgerinitiativen genutzt werden. 

"Was wir brauchen, ist Begeisterung und Tatkraft für das Neue. Wir müssen Lust bekommen auf die Zukunft, die wir mitgestalten wollen. Und dafür brauchen wir ein Bild dieser Zukunft" - damit beschreibt das Team von Reinventing Society das Ziel seiner Arbeit. Mit dem vorliegenden reich bebilderten Band ist dies hervorragend gelungen. Mit einem Fragebogen werden wir abschließend eingeladen, die Vision unserer Stadt zu entwickeln. Von Hans Holzinger 


Zitate


"Bloßer Streit, er mag noch so heftig sein, reicht also nicht aus, um von gesellschaftlicher Spaltung zu sprechen." Jürgen Kaube, André Kieserling: Die gespaltene Gesellschaft

"Was erlaubt ist, kann trotzdem ein Fehler sein. Und nicht alles, was verboten ist, ist politisch gesehen automatisch ein Fehler." Helene Bubrowski: Die Fehlbaren

"Nicht jeder Fehler ist Versagen, nicht jeder Missstand ein Skandal." Helene Bubrowski: Die Fehlbaren

"Was wir brauchen, ist Begeisterung und Tatkraft für das Neue. Wir müssen Lust bekommen auf die Zukunft, die wir mitgestalten wollen. Und dafür brauchen wir ein Bild dieser Zukunft." Stella Schaller, Lino Zeddies, Ute Scheub: Zukunftsbilder 2045

 

changeX 01.03.2024. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zu den Büchern

: Der breite Staat. Nachhaltiger Liberalismus jenseits von Kapitalismus - eine Utopie. oekom Verlag, München 2023, 216 Seiten, 24 Euro (D), ISBN 978-3-98726-057-5

Der breite Staat

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: Die gespaltene Gesellschaft. Rowohlt Verlag, Berlin 2022, 288 Seiten, 24 Euro (D), ISBN 978-3-7371-0148-6

Die gespaltene Gesellschaft

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: Die Fehlbaren. Politiker zwischen Hochmut, Lüge und Unerbittlichkeit. dtv, München 2024, 19.99 Euro (D), ISBN 978-3-423-44168-1

Die Fehlbaren

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: Schockwellen. Letzte Chance für sichere Energien und Frieden. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2023, 310 Seiten, 26 Euro (D), ISBN 978-3-593516967

Schockwellen

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: Zukunftsbilder 2045. Eine Reise in die Welt von morgen. oekom Verlag, München 2023, 176 Seiten, 33 Euro (D), ISBN 978-3-96238-386-2

Zukunftsbilder 2045

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Autor

pro Zukunft-Buchkolumne
<i>pro Zukunft</i>-Buchkolumne

proZukunft, das Buchmagazin für zukunftsweisende Debatten, wird herausgegeben von der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen in Salzburg. Die pro Zukunft-Buchkolumne auf changeX greift das Kapitel über Zugänge zur Zeit aus derAusgabe 4 | 2023 des vierteljährlich erscheinenden Magazins auf. Die Autorinnen und Autoren der Sammelrezension sind: Stefan Wally, Dhenya Schwarz, Jean-Marie Krier und Hans Holzinger.

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