Abseits der Hierarchie

Selbstorganisation - eine Erkundung | 17 Michaela Moser und Liane Metzler
Interview: Winfried Kretschmer

Selbstorganisation ist ein schillernder Begriff, und genau besehen ist keineswegs klar, was damit eigentlich gemeint ist. Unterschiedliche Sichtweisen finden sich sowohl beim Verständnis von Selbstorganisation wie bei Konzepten zu ihrer praktischen Umsetzung. Zeit, das Feld abzustecken. Und Menschen zu fragen, die in und mit Selbstorganisation arbeiten. Eine Erkundung. Hier im Interview: Michaela Moser und Liane Metzler, Köln.

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Was ist und was soll Selbstorganisation? Und was braucht es, um sie möglich zu machen? Diese und ein paar weitere Fragen an Michaela Moser (links) und Liane Metzler (rechts). 

Michaela Moser ist Professorin für Personalmanagement und Leadership an der IU Internationale Hochschule und Geschäftsführerin der Personal- und Managementberatung evitura GmbH. Als Spezialistin für Managementkompetenzen und Demokratisierung von Unternehmen arbeitet sie über Strategien zur Mitarbeiterpartizipation und neuen Führungsansätzen. In ihrem Buch Hierarchielos führen beschäftigt sie sich in systematischer Perspektive mit Anforderungen an eine moderne Unternehmens- und Mitarbeiterführung abseits der Hierarchie. 

Liane Metzler arbeitet als Scrum Master in einem agilen Softwareprojekt einer Versicherungsgruppe und beschäftigt sich vor dem Hintergrund ihrer langjährigen Führungserfahrung mit der praxisorientierten Einführung und Durchführung neuer Kooperationsformen. Sie begleitet Change-Management-Prozesse in Unternehmen und fördert die Veränderungsbereitschaft der vom Wandel betroffenen Mitarbeiter.
 

Was muss man wissen, um Selbstorganisation zu verstehen? 

Michaela Moser: Organisationen sind lange Zeit sehr hierarchisch geführt worden und damit dem Gedanken einer Fremdorganisation unterworfen gewesen, bei der die obere Hierarchieebene die untere Hierarchieebene anweist, eine bestimmte Handlung vorzunehmen. Die lange Geschichte der Hierarchie sorgt dafür, dass es mitunter sehr schwer ist, hierarchische Unternehmen in Unternehmen mit vollständiger Selbstorganisation zu transformieren. Diesem Gedanken folgend, etablieren sich in vielen Unternehmen eher hybride Strukturen, bei denen die Routineaufgaben in der Hierarchie verbleiben und komplexe Aufgaben auf agile, interdisziplinäre Teams außerhalb der Hierarchie übertragen werden. In solchen Fällen koexistieren Selbst- und Fremdorganisation häufig als komplementäre Formen und erzeugen nicht selten entsprechende Spannungsfelder. Führungskräfte einer hybriden Organisation benötigen daher eine hohe Widerspruchstoleranz, um sich in dieser Organisationsform erfolgreich bewegen zu können. Rein selbstorganisierte Unternehmen sind in der Unternehmenspraxis noch selten und eher in Start-ups vorzufinden. 

Liane Metzler: In solchen hybriden Organisationen müssen sich Führungskräfte und Mitarbeiter permanent bewusst sein, wann sie dem Fremd- und wann sie dem Selbstorganisationsgedanken folgen können und welche Auswirkungen das hat. So habe ich als Führungskraft innerhalb der Hierarchie andere Erwartungen an meine Mitarbeiter als etwa als Scrum Master in einem agilen Projekt. Gleichermaßen hat der disziplinarisch geführte Mitarbeiter in einem agilen Team eine andere Rolle und damit andere Erwartungen zu erfüllen als in der Hierarchie. Man muss sich daher immer wieder seine Rolle vor dem Hintergrund des Kontextes klarmachen. Insoweit bedarf es einer enormen Kompetenz zur Selbstreflexion.
 

Was verstehen Sie unter Selbstorganisation? 

Michaela Moser: Selbstorganisation ist ein spannender Begriff und kann in Abhängigkeit von der jeweiligen organisationalen Betrachtungsebene - Organisation, Team, Individuum - mit unterschiedlichen Inhalten belegt sein. Mit Blick auf die Organisationsebene kann Selbstorganisation verstanden werden als die Fähigkeit eines gesamten Unternehmenssystems, sich aus eigener Kraft an neue, veränderte Rahmenparameter anzupassen. Dieser Definition folgend wäre die Neugestaltung und Anpassung einer Gesamtorganisation immer als selbstorganisiert zu betrachten. Immerhin resultiert auch das Verhalten der Organisationsmitglieder aus Regeln, die sich das Gesamtsystem selbst vorgibt.
Betrachtet man hingegen nicht das Gesamtsystem, sondern unterteilt dieses wiederum in Subsysteme, kann die Selbstorganisationsfähigkeit des Gesamtsystems in den Subsystemen wiederum in Fremdorganisation übergehen. Beispiel: Der Vorstand eines Unternehmens bestimmt Regeln, die für die Gesamtorganisation gelten sollen - etwa Richtlinien. Dann kann dies auf Ebene des Gesamtsystems als Akt der Selbstorganisation gelten. Die Anweisung, diese Richtlinien umzusetzen, können aus der Sicht des Subsystem - also der Sicht der jeweiligen Teams oder der Individuen - jedoch wiederum als fremdorganisiert aufgefasst werden.
Zudem ist die Selbstorganisation in agilen Teams als Subsystem einer Organisation von besonderer Bedeutung. Dies beinhaltet, dass es keinen offiziellen Projektleiter innerhalb des Teams gibt, der das Team organisiert. Vielmehr ergreift das Team eigene Maßnahmen zur Problemlösung im Rahmen gemeinsamer Entscheidungen. Sobald das Team jedoch von außen Leitplanken vorgegeben bekommt - etwa durch die Unternehmensleitung -, wird der Gedanke der Selbstorganisation durchbrochen. 

Liane Metzler: Auf der Ebene des Individuums - also Fach- und Führungskräfte sowie Mitarbeiter - wird Selbstorganisation häufig gleichgesetzt mit Zeitmanagement. Dies greift aus meiner Sicht zu kurz. Vielmehr würde ich Selbstorganisation im Kontext der Agilität eher verstehen als die Fähigkeit jedes Einzelnen, im Rahmen eines flexiblen Mindsets Probleme zu erkennen, eigenständig aufzugreifen und sie in Bezug auf gemeinsame Ziele zu lösen. Gleichzeitig tragen Mitglieder agiler Teams Verantwortung für diese Lösungen und die damit verbundene Zielerreichung. Es gibt also keine Person mehr - wie in der Hierarchie so oft üblich -, die man für Fehlentscheidungen oder für nicht erreichte Ziele heranziehen und gegebenenfalls verantwortlich machen kann.
 

Gibt es weitere Kontexte, in denen Selbstorganisation thematisiert wird und mit welchen unterschiedlichen Bedeutungen? 



Liane Metzler: Aus meiner Sicht wird Selbstorganisation auch im Lernkontext immer wichtiger, wenn es um selbstbestimmtes Lernen geht und der Aufbau von Kompetenzen im Vordergrund steht. Im Schulkontext wird dieser Begriff im Zusammenhang mit der Unterrichtsgestaltung daher immer stärker diskutiert. 

Michaela Moser: Meines Wissens findet der Begriff auch in der Medizin Anwendung, denn alle körperlichen Funktionen gelten als selbstorganisiert und laufen eigenständig ab, ohne dass eine außerhalb des Systems stehende Instanz nachhelfen muss - außer vielleicht im Krankheitsfall. Wunden verheilen, das körperliche Immunsystem reagiert auf Krankheiten und versetzt den Körper wieder eigenständig in einen Zustand gesundheitlicher Ausgewogenheit. Man spricht von den Selbstheilungskräften.
Auch in der Biologie ist Selbstorganisation im Sinne eines Wiederherstellens von Stabilität eines Systems ein Thema. In der IT-Branche haben sich Barcamps etabliert, die ja von der Themenfindung bis hin zur Lösung vollständig selbstorganisiert sind. Auch etwa Ehrenämter oder Selbsthilfegruppen leben von Selbstorganisation, insofern es keine Führungskraft gibt, die Vorgaben macht.
 

Ist der Begriff Selbstorganisation passend und hilfreich? 

Michaela Moser: Als Gegenstück zu Fremdorganisation und fremdgesteuertem Verhalten von Mitarbeitern finde ich den Begriff treffend. Er zeigt, dass der Eigenantrieb und damit auch die intrinsische Motivation eine große Rolle im Kontext der Selbstorganisation spielt. Der Teilbegriff "Selbst" spiegelt wider, dass man nicht auf andere warten sollte, sondern selbst aktiv werden muss. Allerdings nimmt der Begriff zu wenig den Ansatz der Eigenverantwortung in den Blick. Wer selbstorganisiert arbeiten will, denkt häufig daran, keinen Chef mehr zu haben und frei agieren zu können. Doch dass man mit Selbstorganisation auch die Konsequenzen des eigenen Arbeitsverhaltens übernehmen muss, bleibt häufig außen vor. 

Liane Metzler: Ergänzend beobachte ich, dass Selbstorganisation häufig gleichgesetzt wird mit Agilität. Doch Selbstorganisation ist eine wichtige Voraussetzung für Agilität, aber kein Synonym dafür.
 

Wofür wäre Selbstorganisation eine Lösung? 

Michaela Moser: Selbstorganisation ist ein wichtiges Prinzip für einige Führungsansätze - wie etwa bei Shared Leadership. Hier werden Führungsaufgaben auf die Mitarbeiter übertragen. Weiterhin ist Selbstorganisation eine wichtige Voraussetzung für das Funktionieren agiler Teams und damit zur Lösung komplexer, interdisziplinärer Probleme. 

Liane Metzler: Selbstorganisation kann auch beim selbstgesteuerten, informellen Lernen eine große Bedeutung zukommen. Anstelle von fremdorganisiertem Lernen durch Trainer in Seminaren hat man zunehmend die Möglichkeit, selbstgesteuert zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Die Verantwortung für die eigene persönliche Entwicklung und Weiterbildung liegt nicht mehr alleine in der Hand der Personalabteilung, sondern bei jedem Einzelnen selbst. Dieser Gedanke wird durch die Digitalisierung gefördert, weil sie es ermöglicht, zeit- und ortsunabhängig sowie eigenbestimmt zu lernen.
 

Was ist das Gegenteil von Selbstorganisation? 

Michaela Moser: Das Gegenteil von Selbstorganisation ist für mich Fremdorganisation. Bei dieser wird eine Instanz zur Organisation von Strukturen und Prozessen bemüht, die außerhalb des Systems steht. Selbstverständlich muss man dann wieder die Betrachtungsebene Organisation, Team oder Individuum berücksichtigen. Betrachten wir das Individuum als eigenständiges System, würde dieses durch Anweisungen des Chefs, bestimmte Dinge zu tun, fremdorganisiert. 

Liane Metzler: Dem kann ich mich nur anschließen, wobei ich Fremdorganisation eher im Kontext der Hierarchie einordne.
 

Hat Selbstorganisation Grenzen? 


Michaela Moser: Grundsätzlich darf man nicht vergessen, dass für das unternehmerische Handeln letztlich die Unternehmensleitung - Vorstand, Geschäftsführung - verantwortlich ist und gesetzlichen Haftungsbestimmungen unterliegt. Sie schränkt die Selbstorganisation nicht selten ein. Zudem ist Selbstorganisation in Teams mit teambasierten Entscheidungsprozessen mit einem hohen Zeitaufwand verbunden. Immer dann, wenn Gefahr im Verzug ist oder die Zeit zu schnellen Entscheidungen drängt, ist ein ausgeprägter auf Selbstorganisation basierender Ansatz kontraproduktiv. Schließlich erfährt die Selbstorganisation ihre Grenzen in einem starren Mindset der Führungskräfte und Mitarbeiter. 

Liane Metzler: Selbstorganisation erfährt ihre Grenzen, wo die Rahmenbedingungen nicht entsprechend gestaltet sind. Und wenn weder die Führungskraft noch die Mitarbeiter die Bereitschaft oder die Fähigkeit zur Selbstorganisation aufweisen. Sie werden dann vermutlich bewusst oder unbewusst Widerstand leisten. Grenzen erfährt Selbstorganisation auch immer dann, wenn Mitarbeiter wenig psychologische Sicherheit erfahren und Angst vor Bestrafung haben müssen, wenn sie Fehler machen. Vertrauen muss da sein und ein positives kulturelles Umfeld.
 

Können Menschen Selbstorganisation? 

Michaela Moser: Auf der individuellen Ebene ist grundsätzlich von einer Selbstorganisation der Individuen auszugehen. Sonst wäre die Menschheit in ihrer Vergangenheit wahrscheinlich sehr schnell ausgestorben. Man muss aber auch sehen, dass die Fähigkeit zur Selbstorganisation bei jedem Menschen sicherlich unterschiedlich ausgeprägt ist … 

Liane Metzler: … und wie bereits angemerkt, muss neben der Fähigkeit auch der Rahmen gestaltet sein, und es muss die Bereitschaft zur Selbstorganisation vorhanden sein. Wenn das gegeben ist, dann können Menschen Selbstorganisation. Können, Wollen und Dürfen sind wichtige Voraussetzungen.
 

Es gilt zu berücksichtigen, dass manche Menschen es durchaus schätzen, wenn sie gesagt bekommen, was sie zu tun haben und wie? 

Michaela Moser: Ja, wer lange in der Hierarchie gearbeitet hat, ist es gewohnt, Anweisungsempfänger zu sein. Wer lange Zeit darauf sozialisiert ist, dem wird es schwerer fallen, plötzlich selbstbestimmt zu arbeiten. 

Liane Metzler: Selbstorganisation erfordert hohe Flexibilität, Eigenmotivation und Kreativität. Diese Fähigkeiten sind durch die Hierarchie oft eingeschränkt worden. Mitarbeiter müssen darin wieder gefördert werden.
 

Was bedeutet das für die Praxis? Wie geht eine Organisation, die mehr Selbstorganisation möglich machen will, damit um, wenn nicht alle Mitglieder der Organisation dies auch wollen? 

Liane Metzler: In hierarchischen Unternehmen verlangt diese Transformation einen Kulturwandel. Der Führungskraft kommt dabei eine hohe Bedeutung zu. Denn sie muss den Wandel von der Hierarchie hin zur Selbstorganisation vollziehen, muss für sich den Rollenwechsel annehmen und durchleben, und sie muss Vorbild sein … 

Michaela Moser: … und die Führungskraft muss lernen, loszulassen, den Mitarbeiter zur Erarbeitung eigener Lösungen anzuregen. Wichtig ist, dass Führungskräfte ihren Mitarbeitern einen Vertrauensvorschuss geben, dass sie geduldig sind und sie dabei unterstützen, Fehler zu vermeiden - also eher der Coaching-Ansatz im Sinne von Hilfe zur Selbsthilfe als der "bestrafende" und "belohnende" Ansatz. Führungskräfte müssen den Mitarbeitern Sicherheit geben, sich auszuprobieren. Und Fehler machen zu dürfen.
 

Gewinnt Selbstorganisation an Bedeutung? 

Michaela Moser: Hier würde ich mit einem klaren Jein antworten: Das kommt darauf an! Wir müssen immer wieder abwägen, wann selbstorganisierte Prozesse für das Unternehmen Sinn ergeben und wann es besser ist, Prozesse fremdorganisiert zu gestalten. In der Zukunft werden wir uns ständig in diesem Spannungsfeld bewegen und uns in einem Prozess ständigen Abwägens befinden. Selbstorganisation hat nur zur Bearbeitung komplexer Zusammenhänge Sinn. Standardprozesse sind meines Erachtens weiterhin in der Hierarchie zu belassen. Ständige demokratische Entscheidungen wären in diesen Bereichen zu aufwendig. Auch Start-ups, die anfangs völlig agil und selbstorganisiert waren, führen ab einer gewissen Größe wieder eine Hierarchie ein. Dies zeigt die Notwendigkeit, ab einer gewissen Unternehmensgröße immer wieder zwischen Fremd- und Selbstorganisation auszutarieren. Aber auf individueller Ebene wird Mitarbeiten zunehmend selbstorganisiertes Handeln abgefordert. 

Liane Metzler: Selbstorganisation sehe ich eng verbunden mit dem Kontext der Agilität. Soweit Komplexität zunimmt, wird auch Selbstorganisation immer mehr gefragt sein. Bei einfachen, skalierbaren Tätigkeiten ergibt Selbstorganisation aus meiner Sicht weniger Sinn. Agile Teams setzen auch auf individueller Ebene Selbstorganisation voraus.
 

Wenn Organisationen zunehmend hybrid werden, was bedeutet das dann für die Jobprofile? Werden die auch hybrid, insofern als es Jobs mit unterschiedlichen Graden an Selbstorganisation gibt? 

Liane Metzler: Durch zunehmende Komplexität, Dynamik und Unsicherheiten in den Unternehmen werden alle Mitarbeiter zukünftig immer stärker gefordert in Bezug auf Anpassungs- und Veränderungsbereitschaft, die ja eher für ein agiles Mindset sprechen. Soft Skills werden also zur Bewältigung des Berufsalltags eine Notwendigkeit sein und nicht nur nice to have. 

Michaela Moser: Meines Erachtens muss man sehr stark nach der Tätigkeit sowie dem damit verbundenen Selbstorganisationsgrad differenzieren und dementsprechend Anforderungsprofile anpassen. Insofern teile ich die Auffassung, dass in hybriden Organisationen die Anforderungsprofile immer individueller und differenzierter werden.
 

Welche sind die größten Hemmnisse für mehr Selbstorganisation? 

Liane Metzler: Das Maß der Selbstorganisation hängt immer auch ab von der Unterstützung und der Akzeptanz der Führungsmannschaft. Führungskräften fehlen in selbstorganisierten Systemen ihre gewohnten Steuerungsfunktionen wie Anweisungen zu geben und Kontrolle über das Ergebnis zu haben. Dieser Kontrollverlust kann im Führungskreis Unsicherheit, Ungeduld und mangelnde Akzeptanz selbstorganisierten Handels mit sich bringen. Insoweit sind Unternehmen gut beraten, Führungskräfte und Mitarbeiter auf dem Weg in die Selbstorganisation gut zu begleiten. 

Michaela Moser: Die größten Hemmnisse für mehr Selbstorganisation liegen im Mindset der Mitarbeiter. Mitarbeiter, die es über viele Jahre gewohnt sind, nach Anweisungen ihrer Führungskraft zu arbeiten, schaffen es oft nicht, schnell das nötige agile Mindset zu entwickeln. Dabei kann auch der Betriebsrat ein Hemmschuh sein. Aber auch die Geschäftsleitung und die Führungskräfte können riesige Hemmnisse für mehr Selbstorganisation sein, denn sie befürchten häufig Kontrollverluste. Nicht zuletzt müssen bei börsennotierten Aktiengesellschaften die Aufsichtsräte mitspielen. Schließlich muss auch der Gesetzgeber über Änderungen seiner Gesetze nachdenken und agile und auf Selbstorganisation abzielende Organisationsformen wie die Heterarchie darin abbilden.
 

Hinkt also das Verständnis von Organisationen der Entwicklung neuer Organisationsformen hinterher? Braucht es ein neues, erweitertes Verständnis von Organisationen? 

Michaela Moser: Selbstorganisation verändert das Organisationsverständnis grundlegend. Nach klassischem Organisationsverständnis entsteht eine stabile und dauerhafte Ordnung nur nach einem vorgefassten Plan als Ergebnis eines zentralen Organisations- und Führungsprozesses. Dieses instrumentelle Organisationsverständnis war in der Organisationstheorie lange vorherrschend und schloss Selbstorganisation explizit aus. Zwar hat sich das Organisationsverständnis in den heute gebräuchlicheren institutionellen und prozessualen Ansätzen bereits erweitert, nach wie vor aber wird angenommen, dass die Ordnungsbildung bewusst durch einen zentralen Organisator erfolgt.
Hierarchiefreie Organisationen und Selbstorganisation werden damit von den drei gängigen Organisationsbegriffen der Betriebswirtschaft nicht erfasst. Zum einen weil die sich vollziehenden zwischenmenschlichen Beziehungen keiner festen, formalen Ordnung unterliegen, zum anderen weil Ordnung durch Selbstorganisation nicht durch einen zentralen Organisator entsteht, sondern diese Funktion von den Mitgliedern der Organisation selbst wahrgenommen wird. Wir brauchen also einen erweiterten Organisationsbegriff, der auch Organisationsgefüge erfasst, die selbstorganisiert ohne Erlass von Organisationsvorschriften und ohne die organisierende Hand eines zentralen Organisierers, Gestalters oder Lenkers entstehen - im Grunde bedarf es einer neuen Begriffsdefinition, die stärker die durch zwischenmenschliche Interaktion geschaffene Ordnung in einem System in den Blick nimmt, unabhängig davon, wie sie entstanden ist.
 

Welche Bedeutung hat Selbstorganisation ganz konkret für Sie und Ihre Arbeit? 

Liane Metzler: In meiner Funktion als Scrum Master eines agilen Teams ist Selbstorganisation ein starker Treiber und die Voraussetzung für gelingende Teamarbeit. 

Michaela Moser: Ich selbst arbeite in einer Organisation, die ein stark ausgeprägtes agiles Mindset hat und mit einer enormen Dynamik das eigene Geschäftsmodell weiterentwickelt. Neben agilen Teams gibt es aber gleichzeitig eine Hierarchie, sodass Selbst- und Fremdorganisation koexistieren und wir die Vorteile beider Organisationsformen verbinden. Auch wir haben daher eine eher hybride Organisation. Organisationsmitglieder in hybriden Organisationen müssen zunehmend über eine ausgesprochene Widerspruchstoleranz verfügen, um mit den ständigen Widersprüchen aus Fremd- und Selbstorganisation umgehen zu können.
 

Welche Frage stellen Sie sich selbst zur Selbstorganisation? 

Michaela Moser: Häufig sind sehr selbstorganisierte Menschen stark intrinsisch motiviert. Die Fragen, die sich hierbei stellen, lauten: "Was können wir tun, um sie vor dem Ausbrennen zu schützen?" und: "Wie schaffen es selbstorganisierte Mitarbeiter, sich vor lauter Ideenreichtum nicht zu verzetteln, wenn sehr viele Probleme gleichzeitig gelöst werden müssen?" 

Liane Metzler: Selbstorganisation sollte kein moderner Managementtrend werden, der ohne konkrete Ausrichtung auf den Zweck oder das Ziel im Kontext der Arbeit bedingungslos eingesetzt wird. Die Frage, die ich mir in diesem Zusammenhang stelle, ist: "Werden die Grenzen der Selbstorganisation von Unternehmen tatsächlich wahrgenommen? Und wird die Entscheidung zwischen Fremd- und Selbstorganisation immer wieder zweckdienlich getroffen?"
 

Das Interview basiert auf einem schriftlich beantworteten Interviewleitfaden mit 15 Fragen, ergänzt mit den Antworten auf einige gezielte Nachfragen.
 


Zitate


"Unternehmen müssen immer wieder abwägen, wann selbstorganisierte Prozesse Sinn ergeben und wann es besser ist, Prozesse fremdorganisiert zu gestalten." Michaela Moser: Abseits der Hierarchie

"Wer selbstorganisiert arbeiten will, denkt häufig daran, keinen Chef mehr zu haben und frei agieren zu können. Doch dass man mit Selbstorganisation auch die Konsequenzen des eigenen Arbeitsverhaltens übernehmen muss, bleibt häufig außen vor." Michaela Moser: Abseits der Hierarchie

"Selbstorganisation wird häufig gleichgesetzt mit Agilität. Doch Selbstorganisation ist eine wichtige Voraussetzung für Agilität, aber kein Synonym dafür." Liane Metzler: Abseits der Hierarchie

"Führungskräfte müssen den Mitarbeitern Sicherheit geben, sich auszuprobieren. Und Fehler machen zu dürfen." Michaela Moser: Abseits der Hierarchie

"Selbstorganisation hat nur zur Bearbeitung komplexer Zusammenhänge Sinn. Standardprozesse sind meines Erachtens weiterhin in der Hierarchie zu belassen." Michaela Moser: Abseits der Hierarchie

"Soweit Komplexität zunimmt, wird auch Selbstorganisation immer mehr gefragt sein." Liane Metzler: Abseits der Hierarchie

"Bei einfachen, skalierbaren Tätigkeiten ergibt Selbstorganisation aus meiner Sicht weniger Sinn." Liane Metzler: Abseits der Hierarchie

"Agile Teams setzen auch auf individueller Ebene Selbstorganisation voraus." Liane Metzler: Abseits der Hierarchie

"Die größten Hemmnisse für mehr Selbstorganisation liegen im Mindset der Mitarbeiter." Michaela Moser: Abseits der Hierarchie

"Wir brauchen einen erweiterten Organisationsbegriff, der auch Organisationsgefüge erfasst, die selbstorganisiert ohne Erlass von Organisationsvorschriften und ohne die organisierende Hand eines zentralen Organisierers, Gestalters oder Lenkers entstehen - im Grunde bedarf es einer neuen Begriffsdefinition, die stärker die durch zwischenmenschliche Interaktion geschaffene Ordnung in einem System in den Blick nimmt, unabhängig davon, wie sie entstanden ist." Michaela Moser: Abseits der Hierarchie

"Organisationsmitglieder in hybriden Organisationen müssen zunehmend über eine ausgesprochene Widerspruchstoleranz verfügen, um mit den ständigen Widersprüchen aus Fremd- und Selbstorganisation umgehen zu können." Michaela Moser: Abseits der Hierarchie

"In hybriden Organisationen bedarf es einer enormen Kompetenz zur Selbstreflexion." Liane Metzler: Abseits der Hierarchie

 

changeX 07.05.2022. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zum Buch

: Hierarchielos führen. Anforderungen an eine moderne Unternehmens- und Mitarbeiterführung. Springer Gabler, Wiesbaden 2017, 242 Seiten, 44.99 Euro (D), ISBN 978-3658046354

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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