Reingelesen 2|2019
Unser Bücherstapel mit Neuerscheinungen der Saison
Hier unsere neue Bücherliste mit Kurzrezensionen spannender Titel aus den Wirtschafts- und Sachbuchprogrammen der Verlage. Mit aktuellen Neuerscheinungen und ein, zwei Nachträgen aus dem vergangenen Jahr. Querbeet durch Themen und Disziplinen. Und reich an unterschiedlichen Blickwinkeln. Dieses Mal geht es um Misstrauen, um Wetter und Klimawandel, um künstliche Intelligenz und digitale Mündigkeit, um Ökonomie, die zur Nebensache wird, um Wirtschaftsdemokratie, um Resonanz und um eine Parabel von beklemmender Aktualität. Zusammengekommen sind dieses Mal zehn Titel, einer davon war schon bei der Buchauswahl zum Thema Arbeit dabei, gehört aber auch auf die Auswahlliste der Neuerscheinungen: Mindshift. Auswahl und Texte: Winfried Kretschmer © Coverabbildungen: Verlage Campus, Hoffmann und Campe, Murmann | Haufe, oekom, Reclam, Residenz, riva, Ullstein, V&R
Toby Walsh:
2062.
Das Jahr, in dem die künstliche Intelligenz uns ebenbürtig sein wird.
riva Verlag, München 2019, 336 Seiten, 22 Euro (D), ISBN 978-3-7423-0860-3
2062 ist das Jahr, in dem die Maschinen, die wir bauen, so intelligent sein werden wie wir. Das klingt nach technologischer Singularität, nach der vor allem von Ray Kurzweil vertretenen Auffassung, der Punkt sei nicht mehr fern, ab dem sich selbst modifizierende Computer intelligenter werden als der Mensch und unsere Spezies überflügeln. Toby Walsh aber hat wie andere KI-Forscher beträchtliche Zweifel an der Unvermeidlichkeit, mit der diese These auftritt. Für ihn ist die Zukunft offen und gestaltbar. Und muss gestaltet werden. In seinem neuen Buch, das unmittelbar an It’s alive anschließt, schreibt Walsh: Wir müssen über einen umfassenden Umbau unserer Gesellschaft nachdenken, denn wir sind an einem Scheideweg in der menschlichen Geschichte angelangt: dem Übergang vom Homo sapiens zum Homo digitalis - unserem Übergang in die digitale Wolke durch die Verbindung des menschlichen Gehirns mit der digitalen Cloud.
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Günter Faltin:
David gegen Goliath.
Wir können Ökonomie besser.
Murmann | Haufe, Freiburg 2019, 263 Seiten, 16.95 Euro (D), ISBN 9783648125649
In seinem Buch Wir sind das Kapital, erschienen 2015, hat der Entrepreneurship-Professor Günter Faltin seinen Ansatz des ideenbasierten Gründens verfeinert, radikalisiert und herunterdekliniert auf die Ebene des Individuums: Gründen als Entfaltung der Persönlichkeit, als Persönlichkeitsentwicklung. Nun legt er eine umfassend überarbeitete Neuausgabe seines Werks vor. Dafür hat er das Manuskript revidiert, ergänzt und teilweise neu geschrieben. Vor allem aber ist das Buch neu aufgehängt. Die Vision ist größer gefasst. Wo die materiellen Bedürfnisse erfüllt sind, wird die Ökonomie zur Nebensache, sagt Faltin anknüpfend an den Traum von John Maynard Keynes. Nicht die Arbeit geht uns aus, wenn sie mehr und mehr von Maschinen übernommen wird. Sondern, groß gedacht: "Weniger Arbeit wird uns Raum und Muße geben für die Versöhnung mit der Natur, für unsere eigene Bildung und Entwicklung, für die Beschäftigung mit Kunst und Kultur." Hier schließt sich der Kreis zu Faltins Verständnis von Entrepreneurship.
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Friederike Otto:
Wütendes Wetter.
Auf der Suche nach den Schuldigen für Hitzewellen, Hochwasser und Stürme.
Ullstein Verlag, Berlin 2019, 240 Seiten, 18 Euro (D), ISBN 9783550050923
Es war wohl der Hitzesommer 2018, der die Wahrnehmung drehte und das Klima in den Fokus gesellschaftlicher Aufmerksamkeit treten ließ. Immer mehr Menschen fragten sich, ob der Klimawandel nicht bloß etwas zukünftig Drohendes, sondern schon längst da sei. Doch sind es nicht zwei Paar Stiefel, das Klima und das Wetter? Um diesen Zusammenhang geht es in dem Buch von Friederike Otto, einer frühen und führenden Vertreterin einer neuen Forschungsrichtung, die sich "Zuordnungswissenschaft" nennt, Event Attribution Science. Ihr Ziel ist es, einen möglichen Zusammenhang zwischen extremen Wetterereignissen und dem Klimawandel nachzuspüren und, falls vorhanden, zu belegen. Das Ergebnis in Summe: Unter bislang 190 untersuchten Fällen von extremen Wetterlagen - Hitzewellen, Dürren, Extremregen, Überschwemmungen - "hat der Klimawandel etwa zwei Drittel verstärkt oder wahrscheinlicher gemacht". Friederike Otto sagt: "Das Wetter ist heute ein anderes, weil wir Menschen das Klima verändert haben." Die beunruhigende Frage, die sich anschließt, ist: Was ist das "neue Normal" - und was das "neue Extrem"? Ein eminent wichtiges Buch, weil es unerklärliche Alltagserfahrung in Einklang bringt mit wissenschaftlich fundierter Erkenntnis.
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Florian Mühlfried:
Misstrauen.
Vom Wert eines Unwertes.
Reclam Verlag [Was bedeutet das alles?], Stuttgart 2019, 88 Seiten, 6 Euro (D), ISBN 978-3-150196007
Wie ein berechtigtes, ja notwendiges Anliegen sich verselbständigt, davon handelt dieses kleine Bändchen. Es geht um Vertrauen. Und um die gefällige Rechnung Vertrauen ist gut, Misstrauen schlecht. Falsch, sagt Florian Mühlfried. Und er hat recht. In dem hartnäckigen Kampf gegen die Misstrauenskulturen, die Wirtschaft und Staat durchziehen, hat sich eine Perspektive verfestigt, die nur einen Teil der Wirklichkeit abbildet. In den Blick gerät nur noch die negative, schädliche Ausprägung des Misstrauens, nicht aber seine emanzipatorische Kraft. Mühlfried rückt die Verhältnisse nun wieder zurecht. Er macht nachvollziehbar deutlich, welche konstruktive Rolle Misstrauen spielt, nicht nur in der politischen Kultur demokratischer Länder. Im Wechselverhältnis mit Vertrauen ist Misstrauen "eine notwendige, sinnvolle und wertvolle Kulturtechnik", so der Autor. Sie ist konstitutiv für Gewaltenteilung, Pressefreiheit und die Kontrolle des Staates durch die Zivilgesellschaft. Das Spektrum des Misstrauens ist wesentlich vielfältiger, als es den Anschein hat. Das kleine Bändchen liefert die erforderliche Typologie gleich mit, um Misstrauen richtig einzuordnen. Entscheidend ist: "Misstrauen immer wieder auf die Probe zu stellen."
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Svenja Hofert:
Mindshift.
Mach dich fit für die Arbeitswelt von morgen.
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2019, 312 Seiten, 19.95 Euro (D), ISBN 9783593509853
Kreativität, Intuition und Empathie sind entscheidende Kompetenzen für die Arbeitswelt der Zukunft. Das ist oft gesagt worden. Oft dahingesagt. Kreativität, Intuition und Empathie wurden als Gegenbegriffe zur durchrationalisierten und durchökonomisierten Wirtschaftswelt des Homo oeonomicus in Stellung gebracht. Langsam erst wird der größere Zusammenhang deutlich. Kreativität, Intuition und Empathie sind das, was Maschinen, was Algorithmen nicht können. Digitalisierung erfordert deshalb "die Rückgewinnung verlorener Menschenkräfte", sagt Svenja Hofert. Die Anpassung an die neue Arbeits- und Lebenswelt verlangt für sie eine grundlegende Veränderung im Denken, Fühlen und Handeln. Einen Mindshift. Eine Persönlichkeitsentwicklung, hin zu den verschütteten Kompetenzen und Potenzialen. In ihrem neuen Buch hat sie zusammengetragen, was dafür erforderlich ist. Das Praxisbuch versammelt 22 solcher Mindshifts, denen die Autorin griffige Bezeichnungen verpasst hat, die Zielpunkte dieser Persönlichkeitsentwicklung beschreiben. Zum Beispiel Updater: "veraltetes Denken einer geänderten Wirklichkeit anpassen". Svenja Hofert buchstabiert aus, worauf es in der Arbeits- und Lebenswelt der Zukunft ankommt.
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Gustav Bergmann, Jürgen Daub, Feriha Özdemir (Hg.):
Wirtschaft demokratisch.
Teilhabe, Mitwirkung, Verantwortung.
V&R Unipress, Göttingen 2019, 353 Seiten, 23.99 Euro (D), ISBN 978-3-8471-0927-3
Wirtschaftsdemokratie ist ein Thema, das über die Jahre und Jahrzehnte immer mal wieder aufflackert, kurz an die Öffentlichkeit tritt, dann aber wieder in Fachdiskussion verschwindet. Es ist beinahe ein Jahrhundertthema - schon in den 20er- und 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts kam die Forderung auf, dann wieder nach dem Krieg, abermals in den 60er-, 70er- und 90er-Jahren des vergangenen und wiederum zu Beginn des neuen Jahrhunderts. Zuletzt drängte Wirtschaftsdemokratie 2015 mit einem Kongress und wichtigen Publikationen auf die Agenda - bis mit Agilität ein anderer Fokus in den Vordergrund trat. Nun zeichnet sich mit den Büchern von Elizabeth Anderson und Lisa Herzog (siehe Buchliste vom März) eine neue Themenkonjunktur ab. Und dazu passt, dass auch die wissenschaftliche Forschung ein Update bekommt: ein Wissenschaftsreader, herausgegeben von Gustav Bergmann, Jürgen Daub und Feriha Özdemir, der unter den Aspekten "Teilhabe Mitwirkung Verantwortung" ein breites Spektrum von Themen beleuchtet und zugleich die zu bearbeitenden Forschungsfelder umreißt. Das ist verdienstvoll, aber eher von wissenschaftlichem Interesse. Dennoch: Wer sich für Wirtschaftsdemokratie interessiert und daran arbeiten möchte, findet in dem Buch zahlreiche Anregungen, Vertiefungen und auch neue Einsichten.
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Stefan Brunnhuber:
Die offene Gesellschaft.
Ein Plädoyer für Freiheit und Ordnung im 21. Jahrhundert.
oekom verlag, München 2019, 176 Seiten, 22 Euro (D), ISBN 978-3-96238-105-9
1945 hat Karl Raimund Popper unter dem Eindruck der Ereignisse des Zweiten Weltkriegs sein Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde vorgelegt, ein Standardwerk der Demokratietheorie gegen den Totalitarismus. Ein Dreivierteljahrhundert ist das her, die Idee einer offenen Gesellschaft aber hat ihre Faszination nicht eingebüßt. Gleichwohl findet Poppers Denken in Deutschland nach wie vor zu wenig Beachtung, das gilt gerade auch für seinen kritischen Rationalismus und seine Forderung nach Falsifizierbarkeit von Theorien. Stefan Brunnhuber, Schüler von Ralf Dahrendorf, Arzt, Psychologe, Ökonom, tritt nun an, das Konzept der offenen Gesellschaft für die Anforderung des 21. Jahrhunderts zu übersetzen. Denn: Die offene Gesellschaft biete positive Antworten auf die Fragen der Zeit, so Brunnhuber. Insbesondere auf diese: "In welcher Gesellschaft wollen wir jetzt im Anthropozän leben?"
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Hartmut Rosa:
Unverfügbarkeit.
Residenz Verlag, Wien/Salzburg 2018, 136 Seiten, 19 Euro (D), ISBN 9783701734467
Als Hartmut Rosa im Jahr 2016 seine Theorie der Resonanz vorgestellt hat, hat dies breiten Zuspruch gefunden. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Rosas Ansatz der Resonanzbeziehung so eingängig und intuitiv nachvollziehbar daherkommt. Resonanz versteht Rosa als "eine Beziehung zwischen Subjekt und Welt, zwischen mir und einem anderen Menschen oder einer anderen Entität, die mir das Gefühl gibt, da antwortet mir etwas". Kurz: Resonanz ist das Gefühl, dass die Welt antwortet. Sie ist die Grundlage unserer Beziehung zur Welt. Resonanz aber lässt sich nicht erzwingen, nicht verfügbar machen. Dieses Moment der Unverfügbarkeit steht nun im Mittelpunkt von Rosas neuem Buch. Die Kernaussage: Die moderne Lebensform zielt darauf ab, die Welt verfügbar, sie berechenbar und beherrschbar zu machen. Das aber hat paradoxe Folgen: Heute werde die politisch-soziale Welt immer unverfügbarer, sagt Rosa. Sein Fazit: "Unverfügbarkeit, die aus Prozessen der Verfügbarmachung hervorgegangen ist, erzeugt radikale Entfremdung."
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Armin Grunwald:
Der unterlegene Mensch.
Die Zukunft der Menschheit im Angesicht von Algorithmen, künstlicher Intelligenz und Robotern.
riva Verlag, München 2018, 256 Seiten, 19.99 Euro (D), ISBN 978-3-7423-0718-7
"Der unterlegene Mensch", das klingt nach einem düsteren Szenario zur Zukunft der Menschheit, nach Dystopie und Fatalismus. Doch ist dies nur der Einstieg, die Ausgangsthese der eingehenden Untersuchung zu den Zukunftsaussichten unserer Zivilisation angesichts von Algorithmen, künstlicher Intelligenz und Robotern, die der bekannte Technikfolgenabschätzer Armin Grunwald vorlegt. Er differenziert: "Sorgen sind konstruktiv. Angst ist destruktiv." Ihm geht es um die Bilder, die wir uns von der Zukunft machen, um die Zukunftsentwürfe und die Zukunftserzählungen, die in Gesellschaften unterwegs sind. Grunwald zeichnet ein differenziertes Bild der Digitalisierung in unterschiedlichen Bereichen, stellt grundlegende Fragen zur digitalen Zukunft und hinterfragt die oft vorbehaltlos wiedergegebenen Grundannahmen, die "Illusionen der Digitalisierung". Sein Buch zeigt: Die große Gefahr ist nicht die Technik, sondern der Umgang mit ihr. Ihre Verlockungen können uns geradewegs in die digitale Unmündigkeit führen. Aber: "Solange wir digitale Technik jedoch als Technik ansehen, als Hilfe und Unterstützung in unseren vielen Lebensbereichen, und sie entsprechend behandeln, so lange bleiben wir überlegen."
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Oskar Panizza:
Die Menschenfabrik.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2019, 64 Seiten, 14 Euro (D), ISBN 978-3-455-00581-3
Ein Mann wird auf einer Wanderung "im östlichen Teile Mittel-Deutschlands" von der Dunkelheit überrascht und irrt völlig orientierungslos herum. Kurz vor Mitternacht steht er plötzlich vor einem riesengroßen schwarzen Gebäude. Er braucht eine Unterkunft und er klingelt. Ein schwarzer kleiner Mann "mit freundlichem, glatt rasiertem Gesicht" öffnet ihm. Alles scheint in Ordnung. Doch auf die Frage, was dies denn für ein Haus sei, antwortet das freundliche Männchen: "Eine Menschenfabrik." Der entsetzte Erzähler fühlt sich an Dr. Faustus, an eine orientalische Zauberküche oder ein abendländisches Narrenhaus erinnert. Und fragt: "Sie können nicht Menschen machen wollen, wie man Brot macht?" Doch, antwortet der Fabrikbesitzer: "Wir machen Menschen, wie man Brot macht." Er habe sich ganz den Bedürfnissen der modernen Zeit angepasst: Man fabriziert Menschen, die nicht denken können. "Das haben wir glücklich abgeschafft." Eine Parabel von erstaunlicher Aktualität. Geschrieben hat sie der Arzt und Schriftsteller Oskar Panizza (1853-1921), von Hoffmann und Campe wurde sie in einer schönen Edition nun neu herausgebracht.
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